Wäre Ihr Leben ein Buch, was hätte es für einen Titel?
Ute Krause: "Aus der Fülle schöpfen". Ich habe in vielen verschiedenen Ländern gelebt. Das hat von Kindheit an meine Flexibilität und Kreativität gefördert. Vielleicht wäre ich sonst nie Illustratorin und Autorin geworden.
Zuletzt waren Sie im Sudan. Was haben Sie da erlebt?
Das erste Mal wurde ich im Herbst 2018 vom Goethe-Institut in Khartum eingeladen, um Workshops für Kinderbuchautoren und Illustratoren zu geben. Soldaten mit Maschinengewehren begrüßten mich, als wir nachts landeten. Ich war die einzige "Touristin", alle Hinweistafeln waren auf Arabisch, niemand sprach Englisch, und ich musste erst mal herausfinden, wo mein Koffer war. Meine Kursteilnehmer aber haben mich dann zutiefst beeindruckt. Sie gingen so warmherzig und respektvoll miteinander um, auch die Geschlechter untereinander. Der Sudan hat die größte Sufi-Gemeinde der Welt. Der Sufismus ist eine liberale, sehr tolerante Form des Islams, denn die Sufis glauben, dass jeder seinen persönlichen Weg zu Gott finden solle.
Ute Krause
Erzählen Sie ein bisschen von der Art des Umgangs.
Man begrüßt sich, indem man die Schulter des Gegenübers berührt, bevor man Hände schüttelt. Bei Konzerten geht das Publikum in Grüppchen auf die Bühne und tanzt dem Sänger Mut zu. Sehr sympathisch. Man stelle sich das hier bei den Philharmonikern vor! Als Anfang 2019 die Inflation sehr hoch war und viele hungerten, beeindruckte mich die Hilfsbereitschaft untereinander. Mein Übersetzer und seine Frau schmierten zum Beispiel Schulbrote für die Nachbarskinder und das, obwohl sie selbst drei Kinder und kaum genug zu essen hatten. "Im Islam", sagte mein Übersetzer, "gibt es den leiblichen Bruder, den Bruder, der ein Verwandter ist, und den Bruder im Herzen und das ist jeder, der hilfsbedürftig ist."
Wie waren die politischen Verhältnisse?
Baschir war seit 1993 an der Macht.
. . . Omar al-Baschir, der fundamentalistische Diktator . . .
Ja, er hatte ja auch Osama bin Laden Aufenthalt gewährt, und die USA hatten das Land in den 1990er Jahren auf die Liste der Schurkenstaaten gesetzt. Baschir hat mit den Saudis gedealt. Sie versuchen, den Wahhabismus weltweit zu stärken, bauen unter anderem auch in Ägypten Kulturzentren, Moscheen und Koranschulen und versuchen so, die radikal konservative Form des Islams zu stärken. Baschir war auf ihrer Linie, seine Sittenpolizei achtete auf die Verschleierung von Frauen. Die Menschen aber, denen ich begegnet bin, standen nicht dahinter. Sie haben Witze darüber gemacht. Weniger lustig war, dass Baschir noch 2017 den Saudis und Emiratis riesige Getreidefelder auf weitere 30 Jahre verpachtet hat, während die eigene Bevölkerung hungerte.
Im Februar 2019 haben Sie einen weiteren Workshop in Khartum gegeben. Da begannen die Proteste gegen Baschir. Was haben Sie erlebt?
Als ich ankam, stand noch mehr Militär am Flughafen, und Baschir hatte das Internet kappen lassen. Journalisten war der Zutritt ins Land verboten, niemand sollte mitbekommen, was dort geschah. Im Hinterzimmer eines kleinen Elektronikladens haben mir Freunde VPN aufgespielt – ein virtuelles privates Netzwerk. Das hatten alle. Damit kann nicht nachverfolgt werden, aus welchem Land eine SMS verschickt wird.
Wie kam die Revolution in Gang?
Zu dem Zeitpunkt kostete ein Beutel Orangen bereits ein Drittel des Gehaltes. Die Menschen waren die korrupte Diktatur leid und gingen auf die Straße. Sie verabredeten sich über VPN. Innerhalb von acht Minuten kam meist schon die Miliz und hat die Leute brutal niedergeknüppelt und eingesperrt. Meine Kursteilnehmer demonstrierten auch und berichteten später von Taubheitsgefühlen in Händen und Füßen und von Atemproblemen, obwohl angeblich nur Tränengas eingesetzt worden war. Es gab viele Verwundete, wie viele es wirklich waren, drang nie nach außen. Trotzdem ließen sich die Menschen nicht unterkriegen und demonstrierten fast täglich, auch viele mutige Frauen. Baschir ließ die Universitäten schließen und Intellektuelle verhaften. Sie wurden in sogenannte Cold Houses gebracht, wo sie buchstäblich heruntergekühlt wurden. Erst kurz bevor es lebensgefährlich wurde, hat man sie wieder enttaut. Das ist eine Foltermethode, die kaum Spuren hinterlässt.
"Zum Glück ging alles gut"
Warum haben Sie das Land nicht schnell wieder verlassen?
Ich bin als Kind in Krisengebieten aufgewachsen. Da habe ich gelernt, dass man in schwierigen Situationen vor Ort bleiben kann, wenn man sich an die Regeln hält. Das bedeutete zum Beispiel, auf keinen Fall aus Neugier auf eine Demo zu gehen. Ich war nur zehn Tage da. Aber so ganz brav war ich trotzdem nicht.
Was konnten Sie tun?
Wenige Nachrichten sickerten aus dem Land. Ich wollte helfen, denn ich bekam die Brutalität der Miliz mit. Auf meinem Laptop war der neueste Band meiner Kinderbuchreihe "Die Muskeltiere" gespeichert. Damit habe ich mich in eine abhörfreie Ecke des Instituts gesetzt und auf Deutsch in den Romantext geschrieben, was man mir berichtete. Bei den Kontrollen auf dem Rückflug habe ich gezittert. Zum Glück ging alles gut, und ich konnte in Berlin beim Deutschlandradio Kultur aus erster Hand von meinen Erfahrungen erzählen. Ich sprach auch mit dem Bundestagsabgeordneten, der für den Sudan zuständig ist, und habe um Hilfe gebettelt. Ich war überzeugt, dass die Sudanesen es schaffen würden.
"Der erste Schritt ist gemacht"
Was ist daraus geworden?
In Deutschland dachte man, schon der Arabische Frühling hat ja nicht geklappt, warum sollte der Sudan sich jetzt befreien können? In der Militärregierung, die sich nach Baschir im Sudan gebildet hat, war anfangs niemand von der Opposition, sondern nur Baschirs Strippenzieher. Die Menschen gingen weiter auf die Straße. Zum Glück hat die Opposition keine Kompromisse gemacht. Im Moment bilden beide Seiten eine Übergangsregierung. Doch alle hoffen, dass die Militärs 2023 nach den Wahlen das Feld räumen. Ein Freund, dessen Bruder in der neuen Regierung ist, schickte mir eines Tages im Februar die Nachricht, dass Steinmeier gerade da sei. Er schrieb, "Mein Bruder schickt dir ein Dankeschön." Da hatte ich das Gefühl, ich habe ein bisschen etwas beigetragen. Ich war so froh, dass Deutschland den Sudan anerkennt. Der erste Schritt ist gemacht.
Was hätte Ihr Vater dazu gesagt?
Vielleicht hätte er daran erinnert, wie ich in Tränen ausgebrochen bin, als ich in die erste Klasse kam.
Warum das?
Als ich sechs Jahre alt war, sind wir nach Ankara gezogen. Mein Vater war Entwicklungshelfer, Agrarökonom bei der Food and Agricultural Organisation (FAO). Wir – dazu gehören meine drei Geschwister – lebten in vielen verschiedenen Ländern. Ich war insgesamt auf elf Schulen.
Aber warum haben Sie geweint, als Sie in die erste Klasse kamen?
Ich bekam wohl ein bisschen Angst. Das war auf der Pakistani Embassy School in Ankara. In meiner Klasse waren Kinder aus zwölf verschiedenen Nationen. Und ich sprach kein Wort Englisch. Aber zum Glück hatte ich eine wunderbare Lehrerin, eine Engländerin, die zu mir sagte: "What a lovely blue dress you are wearing." So habe ich schnell Englisch gelernt. Es war dann ganz selbstverständlich für mich, dass meine besten Freunde aus Jugoslawien, Holland, Pakistan oder der Türkei kamen. Eine wunderbare Erfahrung.
"Das Leben war sehr frei"
Was war die nächste Station?
Ibadan, Nigeria. Meine Eltern haben uns immer auf die örtlichen Schulen geschickt. Auf der dortigen University School waren fast nur nigerianische Kinder. Da sind wir ein Jahr geblieben, bevor wir nach Indien zogen.
Ist das die Auslandserfahrung, von der Sie sagen, sie habe Sie am meisten geprägt?
Ja. Wir waren vier Jahre dort. Anfangs wurden wir vier Geschwister zu Hause unterrichtet. Das Leben war sehr frei. Wir haben im Blumenbeet winzige Dörfer und Dämme gebaut oder wilde Hunde vor den Straßenjungen gerettet. Wir hatten ja nicht viele Spielsachen mitnehmen können und mussten uns selbst etwas erschaffen, mit dem, was wir vorfanden. Wir haben viel improvisiert, weil es vieles nicht gab. Dann bastelt man sich etwas zusammen. Aber Indien ist auch visuell ein Wahnsinnserlebnis: Die Affen, die aus dem Dschungel in unseren Garten kamen, die Pfauen; Schweine und die Kühe als wandernde Müllabfuhr, und natürlich die Basare mit ihren tausend Farben und Gerüchen.
Wann kamen Sie wieder auf eine Schule?
Meine Schwester und ich wurden bald auf ein indisches Internat geschickt. Sie war neun, ich war elf Jahre alt. Die Maharani von Jaipur hatte die Schule 1947 als erste Mädchenschule in Rajasthan gegründet. Sie stellte dafür einen Palast zur Verfügung, holte eine Schottin aus Darjeeling als Schulleiterin und schickte ihr dreizehn Prinzessinnen. Wirklich! Als ich Hindi lernte, habe ich lange von mir im majestätischen Plural gesprochen. Ich sagte also in bestem Hindi: "Unser Name ist Ute", bis meine Freunde mich viel später darauf hinwiesen. Am Anfang war das Internat schon ein Kulturschock, doch mit der Zeit wurden wir ein Teil der Gemeinschaft.
"Deutschland ist mir sehr kalt vorgekommen"
Was genau hat Sie als Kind schockiert?
Es war alles sehr fremd, es gab keine Privatsphäre. Wir teilten einen Schlafsaal mit vierzig anderen Mädchen und wurden ständig begafft, weil wir die einzigen Ausländerinnen waren. Dann gab es sehr strenge Regeln. Ich weiß noch, wie ich erschrak, als unsere Hausmutter einem Fünfjährigen mit dem Holzlineal so auf die Finger schlug, dass es zerbrach.
Waren Sie auch mal sauer auf Ihre Eltern, weil sie Sie immer wieder ins kalte Wasser geworfen haben?
Ja, das war ich. Wir wollten sofort wieder nach Hause, durften aber nicht. Obendrein begann der Krieg zwischen Indien und Pakistan.
Wie haben Sie sich schließlich zurechtgefunden?
Es gab im Internat vier Häuser, die wie bei Harry Potter im Wettbewerb miteinander standen: Das Schulsystem war ja englisch geprägt. Ich konnte ganz gut zeichnen, und meine Mrs. McGonagall, also die Leiterin unseres Hauses, fragte mich, ob ich beim Zeichenwettbewerb mitmachen würde. Da habe ich den ersten Preis gewonnen. Das war ein großer Moment. Nicht nur für mich, auch für mein Haus. Individuell gefördert werden und gleichzeitig etwas für die Gemeinschaft tun, eine wichtige Erfahrung! Der Zusammenhalt war sehr stark. Die Älteren haben nach den Jüngeren geschaut und anders herum. Danach ist mir Deutschland erst einmal sehr kalt vorgekommen.
"Sie wissen nicht, wo ihre Wurzeln sind"
Sie waren vierzehn, als Sie mit Ihrer Familie wieder nach Berlin zogen.
Ja, und es war ein Kulturschock in umgekehrter Richtung. Wenn die Lehrerin mich etwas fragte, stand ich auf, um zu antworten. In Indien blickt man voller Respekt zu den Älteren auf, aber hier war das anders. Ein Jahr später bin ich dann schon wieder als Austauschschülerin nach Amerika gegangen. Ich landete auf einer kleinen Farm mitten in der Prärie. Der Opa der Familie begrüßte mich erst mal mit "Heil Hitler". Die Familie hatte schwäbische Vorfahren. Dann kam ich auf die deutsch-amerikanische Schule in Berlin. Da gab es fast nur Third Culture Kids, also meinesgleichen.
Third Culture Kids?
Das sind Kinder, die aus einer Kultur kommen, aber in einer anderen aufwachsen und dadurch eine dritte Kultur bilden, weil sie weder in die eine noch in die andere gehören. Diese Kinder können sich schnell an neue Situationen anpassen und auf Menschen zugehen. Aber dafür wissen sie oft nicht, wo ihre Wurzeln sind.
"Der Orient - wie nach Hause kommen"
Was ist Heimat für Sie?
Inzwischen ist es Deutschland. Aber nach dem Abitur bin ich erst mal zwei Monate auf der Suche nach meinen Wurzeln nach Indien zurückgekehrt. Und nach 30 Jahren war ich im Februar 2020 endlich auch wieder da. Das war wie nach Hause kommen. Das Gefühl habe ich immer im Orient.
Wann schreiben Sie einen Roman darüber?
Jetzt! In der Corona-Zeit habe ich endlich die Ruhe gefunden, meinen ersten Roman für Erwachsene zu schreiben: Er spielt in Indien!
Was unterscheidet das Schreiben für Erwachsene von dem für Kinder?
In einem Buch für Erwachsene kann man andere Themen aufgreifen, differenzierter erzählen, auch mal etwas brechen, und es muss nicht unbedingt ein gutes Ende haben. Aber gut schreiben ist gut schreiben, egal für welche Altersgruppe.
Sie haben rund 400 Kinderbücher illustriert und 35 geschrieben. Wie kamen Sie vom Zeichnen zum Schreiben?
Auch im Internat. Während des indisch-pakistanischen Krieges hatten wir länger nichts von meinen Eltern gehört. Jeden Abend heulten die Sirenen und die Flugzeuge der Indian Air Force flogen über unseren Schlafsaal. Ich hatte Angst. Was, wenn meinen Eltern etwas passierte? Wir waren weit weg von Deutschland. Weil ich nicht einschlafen konnte, fing ich an, mir nachts Geschichten auszudenken, sah, roch und schmeckte sie sogar. Das hat mein visuelles Gedächtnis geschärft. Wenn ich heute ein Buch schreibe, läuft ein Film vor meinem inneren Auge ab. Den schreibe ich praktisch ab – zumindest für die erste Fassung.
"Lernen, gemeinsam stark zu sein"
Wie sind Ihre Auslandserfahrungen in Ihre Bücher eingeflossen?
Auf ganz unterschiedliche Weise. Mal erzähle ich eins zu eins die Lebensgeschichte eines Taxifahrers in Abu Dhabi, weil sie fast wie ein Märchen klingt. In den "Muskeltieren" liegt das "Traumschiff" aus dem Fernsehen, mit dem ich auch gereist bin, im Hamburger Hafen und wird zum Sehnsuchtsziel für eines der Tiere. Die Muskeltiere sind auch begabte Bastler mit viel Erfindungsgeist, wie wir es als Kinder in Nigeria waren. Außerdem sind die Tierchen sehr unterschiedlich im Temperament, lernen aber, sich gegenseitig zu schätzen und begreifen, dass sie gemeinsam stark sind. So habe ich es an der Schule in Indien erlebt.
Wie kam es zu dem ungewöhnlichen Titel?
Mein Sohn sprach als Kind im Spiel von den "Muskel-" statt Musketieren. Das fand ich so witzig, dass ich beschloss, ein Buch mit diesem Titel zu schreiben. Große starke Tiere hätten dabei zu nahe gelegen. Also habe ich mich auf kleine Nager verlegt: Die beiden Mäuse Picandou St. Albray und Pomme de Terre, die Rattendame Gruyère Réserve und Goldhamster Bertram von Backenbart.
"Die Angst vor dem Unbekannten kann man überwinden"
Warum heißen die Nager nach französischen Käsesorten?
Klingt doch gut, nicht? Die vier Unzertrennlichen leben unter einem Hamburger Feinkostgeschäft, daher die Namen. Es gibt übrigens wirklich ein Feinkostgeschäft in der Deichstraße in der Speicherstadt in Hamburg. Da erzählte mir der Besitzer von einem kleinen Muskeltier-Tourismus in seinem Laden, seit die Bücher auf dem Markt sind.
Können Sie als Weitgereiste sich noch vorstellen, dass Menschen sich vor Fremden fürchten?
Das ist nur die Angst vor dem Unbekannten. Die kann man schnell überwinden.
Wie?
Mit Neugier und Wohlwollen. Auf den anderen zugehen und etwas über ihn erfahren. Zeit miteinander verbringen. Ich habe immer wieder die beglückende Erfahrung gemacht, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind.
Von den "Muskeltieren" sind elf Geschichten erschienen, die vorerst letzte 2020. Alle Bände hat Ute Krause geschrieben und illustriert.
Ab Mai sendet das ZDF eine Verfilmung der "Muskeltiere".