Die Weisen aus dem Morgenland folgten dem Stern. Dorothy und ihre Freunde orientierten sich auf dem Weg zum Zauberer von Oz an der Yellow Brick Road. Den Pilgernden auf dem Jakobsweg weist ein gelber Pfeil die Richtung nach Santiago de Compostela.
Andrea Remsperger
,,Wir sind Pilger, die auf verschiedenen Wegen einem gemeinsamen Treffpunkt zuwandern," schrieb Antoine de Saint-Exupéry 1941 in seinem literarischen Brief ,,Bekenntnisse einer Freundschaft". Er meinte nicht die Kathe- drale, Endpunkt der Routen, die sternförmig auf Santiago zulaufen, sondern ein übergeordnetes Ziel. Es geht um die Besinnung auf das Wesentliche.
,Ich war eigentlich schon tot"
Ich entdecke Parallelen: Was für das Laufen gilt, gilt auch im Leben. Will man die schmerzende Druckstelle am Abend vermeiden, entferne man das störende Steinchen im Schuh sofort. Ebenso lassen sich kleine Alltagsprobleme leicht lösen, wenn man sie rechtzeitig erkennt und benennt. Bleibt man untätig, schwellen sie schnell zum großen Konflikt an.
Auf dem Camino trifft sich die Welt, und alle bilden eine lockere und doch verlässliche Gemeinschaft. Herkunft, Alter, Geschlecht, Weltanschauung und religiöse Vorstellungen spielen keine Rolle. Wer will, läuft stundenlang schweigend allein. Oder man unterhält sich nonstop.
Martina* überlegt, ob sie sich jetzt, da die Kinder aus dem Haus sind, von ihrem Mann trennen soll. Kathrin aus Hawaii weiß nicht, ob sie sich für einen Umzug mit Hauskauf entscheiden will. Pierre aus Südfrankreich hat sich nach jahrelanger Therapie auf den Weg gemacht. ,,Ich war eigentlich schon tot", beschreibt er rückblickend die tiefsten Täler seiner Depression. Unterwegs hält er immer wieder inne, lässt den Blick über das Meer schweifen und dankt für den Augenblick – dem Universum? Gott? Sich selbst? Er kann es gar nicht so genau differenzieren – vielleicht, weil sowieso alles eins ist.
Eine Rose in Guernica
Sven aus Norwegen hat sich für seine Tagesetappe heute sieben Kilometer vorgenommen. ,,Wir wollen es nicht übertreiben", antworte ich mit Blick auf die eher üblichen 25 Tageskilometer ein wenig keck und wundere mich, dass es der athletische junge Mann so gemächlich angeht. Dann erfahre ich von seinem Paragliding- Unfall. Er lag lange im Koma und musste wieder wie ein Kleinkind laufen lernen. Jorge hingegen, ein Bolivianer aus Luxemburg, ist gleich nach dem kargen Frühstück über alle Berge. Für ihn bedeutet der Camino auch sportliche Herausforderung. Und ich lerne, Vorurteile abzubauen, Bewertungsmuster abzulegen, um festzustellen: Im Grunde suchen alle Gemeinschaft, Respekt und Anerkennung, wollen einfach sie selbst sein dürfen.
Einmal steckt mir jemand am Wegesrand ein Bonbon zu. Und ausgerechnet in Guernica, wo 1937 Hunderte Zivilisten durch das Bombardement deutscher Kampfflugzeuge ums Leben kamen, überreicht mir in aller Früh bei Nieselregen ein betagter Señor eine wunderschöne Rose. Er hatte sie, während wir über das schlechte Wetter plauderten, im Vorbeigehen im nächstbesten Vorgarten abgepflückt. Ich bin tief gerührt und hüte sie wie einen Schatz, obwohl ich – ausgerüstet mit Regenkapuze und Wanderstöcken – die Rose alles andere als bequem transportieren kann.
Sechs Wochen für die eigene Bestimmung
"Buen Camino!" lautet die übliche Grußformel, mit der Anwohnerinnen und Passanten einen "guten Weg" wünschen und ihre Anerkennung äußern. Manche winken freundlich, andere strecken den Daumen nach oben oder weisen den Weg. Wertschätzung wird uns Pilgernden überall entgegengebracht. Einmal begleitet mich John aus Kalifornien ein Stück. Er hat sein Leben lang in der IT-Branche viel Geld verdient. Auf dem Camino tausche er hierarchisches Konkurrenzdenken gegen solidarische Gemeinschaft, sagt er. Er suche, finde und genieße unkomplizierte Schlichtheit.
"Manche Menschen wissen gar nicht, was in ihrem Leben so vor sich geht", sagt Max, ein junger Ingenieur aus Stuttgart. Er hat seine Anstellung aufgegeben und nimmt sich sechs Wochen Zeit, um auf dem Weg Richtung Santiago seine Bestimmung zu finden. Ob es ihm gelingt?
* Alle Namen geändert