chrismon: Jährlich pilgern Hunderttausende von Menschen zum Gnadenbild der Schwarzen Madonna nach Tschenstochau. Warum tun sie das?
Wolfgang Brückner: Für viele Polen ist diese Madonna ein religiöses und nationales Symbol und Teil der politischen Erinnerungskultur: Im 14. Jahrhundert wurde ein Tartarenüberfall bei Tschenstochau gestoppt. Das Abzeichen der Gewerkschaft Solidarnosc, die in Polen den Umschwung weg vom Sozialismus herbeigeführt hat, zeigt die Madonna von Tschenstochau. Gewerkschaftsführer Lech Walesa hat dieses Symbol am Revers getragen.
###mehr-galerien### Pilger aus Masuren sind bis zu drei Wochen und 600 Kilometer zu Fuß unterwegs. Warum nimmt das jemand auf sich?
Das kann alle möglichen Gründe haben. Für den einen ist die Pilgerschaft ein jährlich wiederkehrendes bewusst religiöses Ereignis. Ein anderer will wenigstens einmal in seinem Leben den Bußweg abgelaufen sein. Seit Hape Kerkelings Buch "Ich bin dann mal weg" über seine Pilgerreise nach Santiago de Compostela läuft ja ganz Europa.
Pilgern die Leute oder wandern sie bloß?
Eine Konkurrenz zum Pilgerwesen sind im weltlichen Bereich die Volksläufe. Da treffen sich Leute an einem Ort, laufen los - und manchmal bekommt der Schnellste einen Preis. Aber auf Dauer haben die großen Wallfahrtsorte wie Tschenstochau doch mehr Zulauf - ebenso Vierzehnheiligen im Erzbistum Bamberg mit einer halben Million Besuchern im Jahr. Religiös motivierte Wallfahrten sind auch sportliche Herausforderungen. Aber als Pilger kann ich damit einen anderen Sinn verbinden.
Wettkämpfer vergleichen ihre Leistung. Das ist doch auch ein Sinn!
Ja, aber der reicht auf Dauer eben nicht. Zum Pilgern gehört oft auch mehr als der religiöse Sinn - das Gebet und der Nachlass von Strafen für frühere Sünden. Wer nach Vierzehnheiligen pilgert, erlebt eine Kunstwallfahrt. Barockfreunde müssen einmal in der Basilika gewesen sein! Manche Orte findet man schon in Reisebeschreibungen der ersten Baedecker-Ausgaben vor 150 Jahren. Die barocke Wieskirche im Bistum Augsburg zum Beispiel. Das zeigt, wie wichtig diese Kirche damals schon war. Außerdem geht es beim Pilgern ja um das Gruppenerlebnis. Unterwegs bildet sich eine Gemeinschaft.
Die Pilger tragen Gegenstände umher, zum Beispiel einen Schrein mit einer Statue der Mutter Gottes. Warum?
All unser menschliches Tun stiftet Sinn, ob uns das bewusst ist oder nicht. Wer das Gnadenbild auf Vortragsstangen oder auf Fahnen zeigt, der sagt etwas über sich aus. Der identifiziert sich mit einem Kult. Jeder weiß, was diese Leute da tun und für wen sie unterwegs sind. Zum Fußballspiel tragen die Anhänger auch Schals von ihren Vereinen und himmeln die Bilder der Spieler an. Beides sind Zeichenhandlungen, auf Englisch: "Performances".
Pilger zeigen mit der Ikone den Außenstehenden, was sie gerade tun?
Es ist auf jeden Fall eine Form der Mitteilung. Wir Menschen besitzen drei Arten von Sprache: Erstens das gesprochene, geschrieben, gelesene und vor allem gehörte Wort. Diese Form hat sich seit Reformation und Aufklärung bei uns fast schon verabsolutiert, so dass alles andere demgegenüber abfällt - ganz besonders im Calvinismus. Das andere sind die Bilder, das Dargestellte. Das Dritte sind die Handlungen, das Performative. Zum Beispiel wenn man gemeinsam etwas Sinnstiftendes tut, zum Beispiel pilgert, und damit ein öffentliches Bekenntnis ablegt.
Die gesprochene Mitteilung erlaubt es immerhin, sich kritisch zu etwas zu verhalten, sich von ihm zu distanzieren.
Das geht auch mit Bildern. Im Bilderkampf der Reformation haben gerade auf lutherischer Seite die Holzschneider, Maler und Zeichner mit Darstellungen agitiert. Gleiches gilt für die performative Aussage. Und wenn sich Menschen heute übers Internet verabreden und auf dem Marktplatz den "Messias" von Händel aufführen, dann durchbricht das ebenso Seh- und Hörgewohnheiten.
Wolfgang Brückner
###drp|F9K1_g81cltPYoRS_XZktOgC00094984|i-38||###Wolfgang Brückner, 85, beschäftigt sich als Kulturhistoriker und Germanist mit volkstümlichen Kulten in Mitteleuropa. Durch die Sendereihe "Kunst und Krempel" des Bayerischen Rundfunks wurde er als Experte für religiöse Volkskunst einem breiteren Publikum bekannt.
Das ist zunächst wie beim Marathonläufer. Auch er wirft sich auf den Boden und ringelt sich. Pilger, die nach sechs Tagen kaum mehr gehen können, legen sich hin und küssen den Boden, das gehört dazu. So kann man es bei der Wallfahrtskirche zum Heiligen Blut in Walldürn im Badischen beobachten. Da befindet sich in der Pfarrkirche eine Gnadenkapelle, wo die Leute bei Ankunft ihrer Prozession reihenweise niederfallen. Sanitäter helfen ihnen wieder hoch. Da haben Außenstehende schon geklagt: Es sei gesundheitlich unverantwortlich, wie die Leute sich da verausgaben. Schon die Aufklärer im 18 Jahrhundert hatten geschimpft: Die wälzen sich im Dreck. Heute hat sich die Stimmung gewendet. Seit der polnische Papst den Boden küsste, wenn er aus dem Flugzeug stieg, versteht jeder das Niederfallen als ehrerbietige Begrüßung.
Sie werfen früheren Volkskundlern vor, sie hätten einfache Leute mit sonderbaren Bräuchen zu einer eigenen Spezies erklärt. Warum?
Weil ihr Volksbegriff auf einer sehr schlichten Denkfigur beruhte, die sich durch 200 Jahre Ethnologie hindurchzog. Man definierte unterschiedliche Grade von Bewusstsein je nach gesellschaftlicher Schicht und behauptete es gebe unter den Völkern die Wilden und in den Unterschichten der Kulturnationen die Naiven - und auf der anderen Seite Menschen, die mit akademischenm Studium das höchste Erkenntnisniveau erreicht haben. So wird das natürlich nicht formuliert. Aber von dieser Denkfigur aus kommt man schnell zu merkwürdigen Beurteilungen.
Zum Beispiel?
Über das Votivwesen an den Wallfahrtsorten, wo gemalte Bildchen aufgehängt werden, hieß es in der wissenschaftlichen LIteratur, das seien magische Handlungen. Die Leue glaubten dadurch, die Heiligen zu etwas zwingen zu können.
Ist diese Deutung falsch?
In der Tat. In Wirklichkeit handelt es sich auch hier wieder um Kommunikation. Da wird in bildhafter Form geschildert, was passiert ist, wofür man sich bedankt oder was man sich erhofft, was sich bessern soll. Vertrauensvolle Unterhaltung mit der Überwelt durch gemalte Geschichten. Erzählen als gläubiges Anheimstellen. Das halte ich für eine humanere Erklärung als das, was seit Mitte des 19. Jahrhunderts für alle volkstümlichen Handlungen angeboten wird: Die Leute würden Geschäfte mit dem lieben Gott machen. Darin zeigt sich lediglich die Denkweise derer, die das so konstruieren, der Kaufmannsgesellschaft des 19. Jahrhunderts, die nach Umsatz und Gegengabe aufrechnete: "Ich gebe dir etwas, und du gibst mir etwas wieder" - die kapitalistische Tauschgesellschaft.
Andreas Krufczik
###drp|ll8Zch9mkTcF5MbuTfhNuDyl00094986|i-38||###Andreas Krufczik befasste sich zwei Jahre als Fotograf mit Wallfahrten. Dabei wurde ihm immer deutlicher: Hier geht es nicht nur um Glauben, sondern um eine vielschichtige kulturelle Tradition.
Wir schauen auf die Alltagspraxis und damit genauer hin als bloß generalisierende Theoretiker. Der amerikanische Kultursoziologe Erving Hoffman schrieb das Buch: "Wir alle spielen Theater". Jeder stellt sich nicht nur möglichst günstig dar, sondern verkörpert in seinem Leben eine Art Bühnenfigur. Für Goethe heißt Leben eine Rolle spielen. Das verdeutlicht besonders schön, warum sich jeder bewusst oder unbewusst in bestimmter Weise geriert. Unbewusst durch die Sozialisation von klein auf. Durch die Erziehung, in der die Kinder sich von den Erwachsenen abgucken, was sie machen, und dadurch lernen, wie man sich benimmt, was sich gehört, wie wir gekleidet sind, was wir essen - all das sind Beobachtungsgegenstände der Ethnologen.
Viele europäische Normalbürger glauben, ganz ohne Rituale zu leben. Aber sie leben ja auch nach stets wiederkehrenden Regeln, gehen morgens ins Büro, sind abends bei der Familie und machen am Wochenende Ausflüge.
Ja, das erscheint sehr strukturiert. Aber mit "Ritual" meint man doch noch mehr als das. Wir nennen die kirchliche Liturgie ein Ritual, ebenso enthält die Wallfahrt lauter Rituale. Das Ritual ist eine Art heiliges Spiel. Etwas anderes sind unsere unbewussten Verhaltensweisen, Meinungen und Sitten, die wir selbst auch an unsere Kinder weitergeben. Sie summieren sich zu unserer Sozialisation: Kinder wachsen in der Familie auf und benehmen sich wie ihre Eltern. Das Goethe-Wort vom Rollenspiel meint mehr als Schauspielerei. Es geht darum, die angemessene Rolle im Leben zu finden und auszufüllen. Und die Ethnologen schauen uns dabei zu.