- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
In einer eindrucksvollen Rede hat Biden 2016 darüber Auskunft gegeben, wie es ist, unter eine Sprechstörung zu leiden: Er hat bekanntlich gestottert. Wie man um jedes Wort kämpfen muss. Welche Angst man hat, etwas sagen zu müssen. Zu welchen Tricks man greift. Wie man Spott erleiden muss. Delius hat dies in seinem großen, kleinen Roman „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ unvergesslich beschrieben. Sein nächstes Buch soll auch davon handeln. Vor wenigen Tagen hat er in einem Artikel für die „Süddeutschen Zeitung“ über den Mit-Stotterer Biden erklärt: „Wer stottert oder gestottert hat, hat gute Chancen, ein besonderer Liebhaber der Sprache zu werden.“ Manchen hilft es auch dabei, ein Gespür für ihre Mitmenschen zu entwickeln. So jedenfalls hat es Biden gesagt: „Das Beste, was mir jemals widerfahren ist: dass ich stark stotterte, dass man sich über mich lustig machte, ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, gedemütigt zu werden.“
Ob ich nun ein besonders sprach- oder empathiebegabter Mensch bin, will ich nun nicht behaupten. Aber die Erfahrung, als Kind und Teenager zeitweise stark gestottert zu haben, hat mich geprägt. Von allen Tagen meiner Grundschulzeit erinnere ich mit einzigartiger Deutlichkeit an denjenigen, als ich mit meiner Mutter zur Sonderschule musste. Da ging ich – glaube ich – in die dritte Klasse. Schon auf dem Weg über den Schulhof wurde mir mulmig. Denn ich sah, wie der Schläger der Nachbarschaft einen kleinen Jungen verdrosch. Die Angst wuchs, als wir beim Schulleiter saßen. Denn es ging nicht, wie ich geglaubt hatte, um ein Beratungsgespräch. Er bedrängte meine Mutter, mich jetzt sofort umzuschulen. So jung ich war, habe ich doch gemerkt: Das hier könnte gefährlich werden.
Es ist zum Glück anders gekommen. Eine Schulfreundin meiner Mutter, meine Logopädin, hat deutlich vom Wechsel auf die Sonderschule abgeraten und meinen Eltern Mut gemacht. Ursel Randt hieß sie. In Hamburg wird ihrer mit großer Dankbarkeit gedacht, weil sie – in ihrer Schulzeit rassistisch verfolgt – sich sehr um die Erinnerung an das jüdische Leben ihrer und meiner Heimatstadt verdient gemacht hat.
Beim Corona-Aufräumen stieß mein ältester Bruder auf einen Brief unseres Vaters an die Krankenkasse, mit der er logopädische Behandlungskosten einreichte. In dieser Woche hat er ihn mir zugeschickt. Den Namen meines Logopäden hatte ich längst vergessen – nicht aber, wie sehr er mir geholfen hat. Der Brief nennt seinen Namen: Jörg Töteberg.
Vielleicht ist das meine wichtigste Lehre aus dieser Erfahrung: Dass es auch Menschen gibt, die es gut mit einem meinen, wenn es einem schlecht geht.
Übrigens bin ich wegen meines Stotterns nie gehänselt worden.
P.S.: Die Museen sind leider immer noch geschlossen. Aber für eine sehr schöne Website durfte ich eine Mini-Ausstellung mit drei Bildern und einem Text kuratieren: Herzlich willkommen – hier geht’s lang!