Es kann ratsam sein, sich ab und an die eigenen Privilegien bewusstzumachen: Wer in der Europäischen Union aufgewachsen ist, kann in Frieden leben. Wer dazu noch einen Nachnamen hat, der von einer langen europäischen Ahnenreihe erzählt, hat es leichter bei der Job- oder Wohnungssuche. Das heißt nicht, dass man mit so einer Biografie immer auf der Sonnenseite des Lebens steht, natürlich nicht. Aber die "richtige" Herkunft kann ein Vorteil sein im Leben - eben ein Privileg.
Es ist sehr fraglich, ob sich alle Mitarbeitenden der umstrittenen Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, kurz Frontex, stets ihrer Privilegien bewusst sind. Frontex wacht über die Außengrenzen der EU und ist Herausgeberin einer Onlinebroschüre, die sich offenbar einem Wettbewerb über die zynischsten Euphemismen verschrieben hat. Schon seit einigen Monaten steht sie im Internet zum Herunterladen bereit, "Mein Leitfaden zur Rückkehr", für Erwachsene, Jugendliche und auch für Kinder von sechs bis elf Jahren. Das bunte Heftlein gibt es in mehreren Sprachen, zum Beispiel auf Paschtu (wird in Afghanistan gesprochen), Arabisch, aber auch auf Deutsch. Es kann ja auch gut sein, dass die Broschüre denen in die Hände fällt, die Deutsch sprechen, weil sie hier seit Jahren zur Schule gehen. Es gibt acht Abschnitte, von der "Anhörung zur Rückkehrentscheidung" (welches Kind soll das bitte verstehen?) bis zur Schlussfrage: "Wie geht es weiter?" Tja, wenn man das nur wüsste!
Doch der Reihe nach. Am Anfang steht der Satz: "Möglicherweise wurde dir gesagt, dass du umziehen und im Heimatland deiner Familie leben musst. In diesem Buch wird erklärt, was bis zu deiner Ankunft in deinem neuen Zuhause passieren kann." Möglicherweise? Möglicherweise wurde das auch gar nicht groß erklärt; möglicherweise flogen betroffenen Familien auch nur bürokratische Begriffe wie "vollziehbar ausreisepflichtig" um die Ohren, als die Polizei klingelte.
Es geht dann weiter mit kurzen Texten und bunten Illustrationen, immerhin sehen die Menschen darauf nicht immer glücklich aus wie auf einer Abenteuerreise. Viele aber schon, und allein das ist verstörend.
Bis zur Abreise, so wird erklärt, kämen Familien in Gewahrsam, nur darf das so in der Broschüre nicht heißen. "Möglicherweise darfst du die Einrichtung verlassen, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht dürfen dich Menschen besuchen, die nicht in der Einrichtung leben. Hierfür gelten in verschiedenen Ländern verschiedene Regeln." Am Tag der Ausreise, heißt es weiter, kämen "Begleitpersonen" mit Westen. "Welche Farbe wird die Weste wohl haben?" - Dieser Satz steht dort wirklich, als sei das alles ein lustiges Ratespiel. "Möglicherweise siehst du jemanden mit Handschellen. So sind er und die anderen sicher."
Am Gepäckband, das in der Szene nach der Ankunft zu sehen ist, hellen sich die Gesichter der Abgeschobenen schon wieder auf, ein Kind fällt einem Erwachsenen um den Hals. "Im Land deiner Familie wirst du viel erleben und kennenlernen, das neu und ganz anders ist. Zum Beispiel ein neues Haus, eine neue Schule, eine andere Sprache und anderes Essen. Neues kennenzulernen ist immer aufregend, darum hab keine Angst, Neues zu entdecken – vielleicht nette neue Lehrer, nette neue Freundinnen und Freunde oder leckere neue Süßigkeiten."
Lesehinweis: Ein Krankenpfleger arbeitet als Minenräumer. Jeden Tag riskiert er sein Leben, um zu verhindern, dass Kinder mit Minen spielen und sterben.
Hat die bunte Bilderbuchwelt etwas mit der Realität zu tun? Timmo Scherenberg vom Hessischen Flüchtlingsrat sagt: "Eine Abschiebung ist eine extrem stressige und belastende Situation für alle Beteiligten einschließlich der Beamten, die dabei eingesetzt werden. Es ist eine Zwangsmaßnahme." Mitunter würden die Leute mitten in der Nacht von der Polizei aus den Betten geklingelt, auch Familien mit Kindern. Der Termin der Abschiebung werde nicht angekündigt, das sei seit einigen Jahren verboten. Zum Packen bleibe kaum Zeit. "Es gelten die Gepäckbeschränkungen, die auch gelten, wenn wir in den Urlaub fliegen, 20 Kilo pro Person. Die Menschen müssen ihr Leben in einen Koffer packen. Was keinen Platz hat, kommt halt nicht mit", sagt Scherenberg. Manchmal scheiterten Abschiebungen, weil Menschen sich wehrten. "Bei der zweiten Rückführungsvollstreckung werden Leute gefesselt, werden Menschen ins Flugzeug getragen." Es könne sein, dass Kinder dabei zusehen müssten. Derzeit treffe dieses Schicksal viele Menschen aus der irakischen Community. Über viele Jahre seien Rückführungen nicht möglich gewesen und Duldungen verlängert worden, erklärt Timmo Scherenberg. "Diese Leute fallen nun aus allen Wolken."
Es mag sein, dass die europäischen Gesetze es zulassen, Familien und Kinder in ein Land zu schicken, das sie jahrelang nicht mehr gesehen haben. Es mag sein, dass es juristisch nicht zu beanstanden ist, wenn Kinder von einem Tag auf den anderen aus Schule und Umfeld gerissen werden. Aber dann entstehen Situationen, die man schwer ertragen kann. Vielleicht werden sie durch aufrichtige Worte des Bedauerns erträglicher oder durch mitfühlende Blicke. Vielleicht muss man solche Momente auch einfach nur aushalten, weil es schlicht nichts schönzureden gibt. Denn es geht um Abschiebungen, nicht um Abenteuerurlaube. Menschen, Kindern zumal, mit bunten Bildern und blumigen Worten aus einem Raum der Privilegierten zu werfen, ist nicht das, wofür Europa stehen sollte. Es spricht gegen Frontex, dass so eine zynische Broschüre veröffentlicht wurde. Und leider auch gegen uns Privilegierte, dass so eine Publikation monatelang im Netz stehen konnte, ohne dass sich eine größere Öffentlichkeit daran gestört hätte. Warum? Weil das Heftlein den Geist einer Zeit atmet, die auf Abschottung setzt.