Doch die Fixen sind schon weiter, die Wichtigen woanders. Warum es so schwer ist, im Jetzt zu bleiben
15.11.2010

"Also neulich habe ich toll gegessen", sagt jemand am Tisch der Freunde. "Das war in diesem Restaurant direkt am Rathaus! " Während er die köstlichen Vorspeisen der Gastgeberin achtlos in sich hineinschaufelt, schwärmt er weiter von dem Lokal. Die Köchin ärgert sich, dass das exzellent zubereitete Essen so missachtet wird. - Das Ehepaar sitzt bei Sonnenuntergang auf der Terrasse. Der Kellner hat zwei Gläser Sekt gebracht, und beide stoßen auf das freie Wochenende an. Gerade holt der Mann Luft, um etwas zu sagen. "Schatz", meint da die Frau, "wenn wir zu Hause sind, sollten wir unbedingt die Fahrräder herrichten lassen, damit wir am nächsten Wochenende eine Tour machen können." Die Liebeserklärung bleibt dem Ehemann angesichts des Hinweises auf Reifen und Rost im Halse stecken.

Die Liebeserklärung bleibt dem Mann beim Hinweis auf Reifen und Rost im Halse stecken

Momentaner Hochgenuss verflüchtigt sich, der Zauber des Augenblickes ist hin, wenn ein Mensch es nicht schafft, im Jetzt zu bleiben. Mag sein, dass er selbst es gar nicht merkt und zunächst nur anderen ordentlich die Stimmung verdirbt oder sie kränkt. Es ist schließlich verletzend, wenn ein anderer über das hinweggeht, was man für diesen Augenblick gedacht, gewünscht, geplant hat. Schließlich verliert einer aber auf Dauer selber den Geschmack am Leben, wenn er nie dort ist und bleibt, wo er sich gerade mit Leib und Seele befindet. Man wird kurzatmig, rastlos - wundert sich, wo nur die Zeit immer hingeht ... Gelegentlich werden dann Therapien eingekauft, mit deren Hilfe man sich für viel Geld (und Zeit) diese Hektik wieder abtrainiert.

Oder wie kommt es sonst dazu, dass man anderen nicht bloß "ins Essen quatscht", wie Loriot sagt, sondern auch in den Mondschein oder Sonnenuntergang, in die Pläne, die jemand freudestrahlend mitteilt? Manchmal möchte man sich selber als Fachmann oder -frau präsentieren: "Ich weiß auch etwas zu diesem Thema - ich kenne mich aus." Vielleicht will man wichtig sein, mindestens so wichtig wie der, der gerade im Mittelpunkt steht. Wer bei sich die Neigung entdeckt, die zartesten Momente durch rabiate Nüchternheit zu zerstören, sollte einmal über einen Satz des Philosophen Walter Benjamin nachdenken. "Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können" - so hat er die Fähigkeit zur Lebenskunst beschrieben. Man muss sich also gut aushalten können. Und klar sehen, was mit einem los ist.

Wüsste sie nichts Nettes mehr zu sagen auf die Worte ihres Mannes?

Die Frau, die ihren Ehemann mit seiner Liebeserklärung ausbremst: Kann sie es nicht glauben, dass er sie auch nach zwanzig Jahren noch zärtlich liebt? Wüsste sie nichts Nettes mehr zu sagen auf die Worte ihres Mannes? Ein anfänglicher Schrecken bei einer echten und tiefgehenden Selbstbegegnung ist manchmal unvermeidbar, aber heilsam. Man kann im besten Sinne des Wortes "in sich gehen", nachschauen, was man bislang verdrängt, weggeschoben hatte, und sich dem stellen - dass die Liebe eingerostet ist, man sich geniert, weil man selber keine Ahnung von der Kunst der Gastfreundschaft hat und andere darum beneidet. Es muss ja nicht bei der Bestürzung bleiben. Sie kann zur Einsicht führen, was man alles ändern kann, um mit sich und anderen so richtig glücklich zu sein.

"Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils" - schreibt der Apostel Paulus drängend in einem seiner Briefe. Und wenn einem schon immer wieder ein wunderbares Stück vom Paradies auf Erden geschenkt wird, jetzt, in diesem Moment, dann wäre es doch dumm, stattdessen traumverloren in der Vergangenheit zu schwelgen oder in die Zukunft auszuweichen. Jetzt ist der Augenblick, der ganz Ihnen gehört. Genießen Sie ihn.

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