Aber manchmal muss man auch den Mund aufmachen. Susanne Breit-Keßler über starke Kinder, die bei Unrecht Alarm schlagen
15.11.2010

"Alte Petze", schrien wir früher, wenn uns jemand beim Klassenlehrer anschwärzte, weil wir Klotüren von innen versperrt hatten und anschließend über die Türen nach außen geklettert waren. Petzen waren bei uns unten durch. Ist alles Petzen eine Gemeinheit? Wenn der vierjährige Maximilian heulend zur Mutter gelaufen kommt, weil ihm Schwester Laura die Buntstifte weggenommen hat, dann will er sie nicht verpetzen. Es geht dem Kleinen um seine Bedürfnisse, darum, sein Recht und Hilfe zu bekommen. Dass Laura die Buntstifte braucht, um ein Bild für die Schule zu malen, ist bei Maximilian nicht im Blick. Ihre Wünsche interessieren ihn - noch - nicht.

Deshalb würde es der Sohn nicht verstehen, wenn der Tadel "Petze" käme. Bei den Kleinen ist es notwendig, dass die Eltern spüren, wann sie eingreifen müssen - und wann es besser ist, die Kinder zu ermuntern, selbst nach einer Lösung zu suchen. Bei älteren Kindern ist es verpönt, andere anzuschuldigen. Aber es kommt vor. Der zehnjährige Leon berichtet, dass Finn verbotene Killerspiele auf seinem PC hat. Natürlich muss mit Finn gesprochen werden, um seine Motive zu verstehen. Dem Jüngeren vorzuwerfen, er wolle den 16-jährigen Bruder nur in die Pfanne hauen und sich beim Vater einschmeicheln, wäre arg. Solche Botschaften vermitteln einem Kind den Eindruck: "Ich bin böse und schlecht." Es quält sich mit dieser Einschätzung - wer weiß, wie lange. Was ein Kind antreibt, über andere zu reden, das lässt sich in einem Gespräch herausbringen. Das Kind merkt dann, dass es ernst genommen wird. Es kann ja sein, dass Leon Angst hat, weil Finn am Computer serienweise Menschen umballert. Möglicherweise spürt er auch sorgenvoll, dass Finn nach solchen Spielen mit dem kleineren Bruder aggressiver umgeht als sonst.

Oder Leon möchte einfach selber mehr Spiele spielen dürfen. Natürlich kann es auch mal Geschwisterrivalität sein, die ein Kind "petzen" lässt. Dann ist es genauso wichtig, hinzuhören und die eigenen, elterlichen Anteile am Konkurrenzkampf zu entdecken. Wer die Kinder reden lässt, der erfährt von seelischen Vorgängen in ihrem Inneren, von Gedanken, die sie umtreiben. Kinder lernen in solchen Gesprächen, eigene Gedanken und Gefühle und die anderer wahrzunehmen und angemessen zu beschreiben. Irgendwann finden sie schließlich selber Auswege aus kritischen Situationen. Das macht stark: im Kopf und im Herzen.

Und starke Kinder brauchen wir. Kinder, die ihrer Beobachtung und ihrem Gefühl trauen. Die irgendwann ganz gut unterscheiden können, ob sie sich nur für einen Augenblick wichtig machen wollen. Oder ob sie die Sorge um sich selbst und andere antreibt. Solche Buben und Mädchen haben den Mut, dann zu "petzen", wenn es darauf ankommt, weil sie wissen: Meine Eltern hören auf mich, sie nehmen mich "für voll". Es ist an den Erwachsenen, Kinder zum Reden anzuhalten: Dann, wenn sie etwa Zeugen einer Jagd werden, die größere Schüler auf einen kleinen machen, der täglich aufs Neue von ihnen gepeinigt wird.

Wenn sie sehen und bei sich selbst erleben, dass Lehrer, Trainer, Pfarrer - Menschen, denen sie eigentlich ihr ganzes Vertrauen schenken - Ohrfeigen austeilen, prügeln oder sich ihnen auf eine Weise nähern, von der die Kinder ganz genau spüren, dass sie unangemessen, dass sie eine hundsgemeine Verletzung ihrer Persönlichkeit ist. "Ich habe keine größere Freude als die, zu hören, dass meine Kinder in der Wahrheit leben", heißt es in einem biblischenBrief (3. Johannes 4) - geschrieben an Erwachsene. Ein richtig gutes Motto.

Das neue Buch von Susanne Breit-Keßler: "Die Ewigkeit ist in mein Herz gelegt" in der edition chrismon 

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.