Liebe Leserinnen, liebe Leser,
die ersten beiden Wochen des neuen Jahres sind vorbei. Vermutlich hat die eine oder der andere die ersten guten Vorsätze schon wieder in die Tonne getreten. Motto: Bringt ja eh nichts. Oder doch? Hier zwei mögliche neue Vorsätze – wenn nicht fürs ganze Jahr, dann doch vielleicht für die nächsten Wochen:
Erster Vorsatz: Verzeihen Sie mal wieder.
Zweiter Vorsatz: Lassen Sie sich mal wieder verzeihen. Lassen Sie es einfach zu. Dafür müssen Sie allerdings jemandem einen groben Fehler gestehen, der Ihnen in jüngster Zeit unterlaufen ist und Sie nun veranlasst, einen großen Bogen um den Geschädigten zu machen. Riskieren Sie es: Gehen Sie auf ihn oder auf sie zu und sagen Sie: "Es tut mir leid." Ich wette, dieser zweite Vorsatz ist viel schwerer durchzuhalten als der erste.
Fangen wir also klein an und verzeihen wir selbst. Vergeben, verzeihen – darum geht es immer wieder bei uns, im evangelischen Magazin chrismon. Die Philosophin und Autorin Svenja Flaßpöhler hat ihrer Mutter verziehen. Zumindest redet sie wieder ganz normal mit ihr, ganz ohne Bedürfnis, das Vergangene noch einmal aufzurollen. Dabei gab es gerade darüber viel zu reden. Flaßpöhlers Mutter hatte die Familie verlassen, als Svenja 14 war. Die Tochter wusste lange nicht, was ihre Mutter zu diesem Schritt bewogen hatte. Später, als Flaßpöhler selbst Mutter geworden war, wollte sie ihr Kind der Oma, also ihrer Mutter, zeigen. Doch die interessierte sich überhaupt nicht fürs neue Enkelkind. Eine verletzende Erfahrung!
Hat man schon verziehen, wenn das Vergangene im Miteinander einfach keine Rolle mehr spielt? Darüber hat Svenja Flaßpöhler ein Buch geschrieben. chrismon sprach mit ihr und der Professorin Ines Geipel, Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe, frühere Weltklasse-Sprinterin – und selbst Dopingopfer. Geipel warnt in diesem Gespräch davor, die Täter einfach davonkommen zu lassen, indem man ihnen verzeiht. Geipel geht es dabei vor allem um den Selbstschutz der Opfer. Aber lesen Sie selbst.
Vor genau zwei Jahren lautete das Titelthema unserer chrismon-Ausgabe: "Es tut mir leid." Damals erklärte die Leiterin der Fachstelle für Täter-Opfer-Ausgleich beim Diakonischen Werk Traunstein (Bayern), wie wichtig es sei, um Entschuldigung zu bitten. Sich zur eigenen Tat bekennen, das eigene Bedauern zum Ausdruck bringen, Einsicht zeigen, das alles entlaste ungemein – den Täter wie die geschädigte Person. Außerdem erzählten drei Menschen von ihren Erfahrungen mit dem Satz "Es tut mir leid".
Diese Berichte sind noch immer lesenswert! Sie zeigen aber auch, warum der zweite Vorsatz so ungemein schwer zu verwirklichen ist: zum eigenen Fehler zu stehen, ihn gegenüber der oder dem Geschädigten einzugestehen, auf die Person zuzugehen und um Verzeihung zu bitten. Wenn Sie sich auch schwer damit tun, dann interessiert Sie sicher, wie Norbert Pfeiffer im August 2010 als Medizinischer Vorstand der Universitätsmedizin in Mainz einen Riesenskandal an seinem Uniklinikum bewältigen musste. Zwei Babys waren gestorben, ein drittes schwebte in Lebensgefahr, und das alles wegen einer verkeimten Infektionslösung. Was für ein Versagen! Pfeiffer war damals juristisch verantwortlich. Er entschied sofort, dazu zu stehen und alles offenzulegen. Das war mutig und richtig.
Auch über politische Dimensionen des Vergebens berichten wir in chrismon: Die Friedenskirche "Church of the Brethren" ermutigt in Nigeria kriegstraumatisierte Menschen, die Spirale des Hasses, in Gang gesetzt von der Terrororganisation Boko Haram, zu durchbrechen. Das nötigt einfach Respekt ab. Die chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott lernte in Ruanda Wellars Uwihoreye und Innocent Gakwerere kennen. Wellars hatte sich während des Genozids in dem Land vor über zwanzig Jahren den Mörderbanden angeschlossen. Innocent musste sich vor Leute wie ihm in der Kirche verstecken. Die beiden sind heute Freunde, und Wellars bekennt sich zu seiner Schuld.
Um Verrat und Vergebung geht es natürlich auch in der Bibel. Wir fragten in unserer Rubrik "Religion für Einsteiger": "Kann man Judas verzeihen?"
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und nur das Beste für Ihre guten Vorsätze. Lösen Sie sie ruhig ein!
Burkhard Weitz
Verantwortlicher Redakteur für die Abo-Ausgabe chrismon plus