Doch manchmal offenbaren Korrekturen auch ein erschreckendes Maß an strategischer Arglosigkeit. Lange wollte Merkel keinen EU-Beitritt der Türkei. Jetzt schließt sie ihn nicht mehr aus. Und wieder zeigt sich, wie viel ihre Stimme innerhalb des losen Verbunds EU zählt – innerhalb einer Wirtschaftsmacht, die ihre Macht oft nicht ausspielen kann.
Anfang 2011 sprach sich auch der französische Präsident bei seinem Türkeibesuch gegen einen EU-Beitritt aus. Zwei starke Rebellen gegen die EU-Diplomatie, das war der türkischen Regierungspartei AKP offenbar zu viel. Sie ließ in ihrem Reformeifer nach. – Bis dahin hatte die EU mit ihrer Verhandlungsmacht viel erreicht: Die türkische Verfassungsreform von 2010 stärkte Bürgerrechte, entmachtete das Militär, erschwerte Parteienverbote. Türken diskutierten öffentlich über den Völkermord an den Armeniern. Friedensgespräche mit der kurdischen PKK führten zum Waffenstillstand.
Der zerbrach 2011. Die Türkei fixierte sich so auf den Kurdenkrieg, dass sie die Ausbreitung eines „Islamischen Staates“ an ihrer Südgrenze hinnahm. Präsident Recep Tayyip Erdogan verschärfte den Ton gegenüber den Armeniern und schränkte Bürgerrechte ein. 2015 setzte ein Strom von Flüchtlingen vom türkischen Festland auf die griechischen Inseln ein, gegen den die türkischen Behörden angeblich machtlos waren – bis Angela Merkel einlenkte.
Die EU hat bei den Beitrittsverhandlungen seit 2011 viel an Terrain verloren. Nun schaltet sich Merkel ein, um die Verhandlungen mit der Türkei zu beschleunigen. Sie will die Flüchtlingsroute über das Ägäische Meer abdichten. Einen Rabatt darf sie der Türkei deshalb aber nicht gewähren!