Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
20.10.2010
2. Sonntag nach Epiphanias
Niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; sondern man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen.
Markus 2,22

Wir haben guten Wein in alten Schläuchen: Unsere alten Kirchen, in denen so viele Kinder getauft und Tote beweint wurden; die alten Formeln, mit denen das Glück von Menschen besiegelt und ihre Sünden vergeben wurden; die alten Gesten, mit denen Menschen gesegnet wurden; die alten Kelche, aus denen Menschen die Hoffnung auf das Leben getrunken haben; die Texte Luthers und Zwinglis, in denen die Liebenden und die Verlassenen eine Unterkunft gefunden haben. Die alten Schläuche enthalten nicht nur alten guten Wein. Der Wein hat auch die Schläuche geheiligt. Unsere Traditionen: alte Schläuche und guter Wein in einem. Die Welt wird lesbar mit den alten Texten.

Die fremden Texte mit ihren fremden Horizonten, die also nicht die meinen sind die Psalmen, die Propheten, die Schöpfungsgeschichte: Ich bin ihr Gast, ich muss ihre weltanschaulichen Horizonte nicht zu meinen machen. Ich bin ihr leicht ironischer oder auch humorvoller Gast. Humorvoll: Ich glaube nicht alles, was sie sagen. Ich teile nicht ihre historischen und naturwissenschaftlichen Voraussetzungen. Humorvoll auch mir selbst gegenüber: Ich, der Mensch des 21. Jahrhunderts, erlaube mir, eine Sprache zu sprechen, die nicht die meine ist. Die Psalmen sind das Gottesgespräch meiner Toten. Dieses höre ich, in dieses schreibe ich meine Hoffnungen ein. Es sind die großen Gedichte von anderen Generationen. Ich frage nicht, ob sie richtig sind. Und doch trinke ich von einer alten Wahrheit. Ich lasse ihnen ihre Fremdheit und nehme teil an der Wahrheit ihres Hungers nach Gott, nach Hoffnung, nach Gerechtigkeit, nach Schönheit. Mein Gaststatus macht es mir möglich, in den alten Zelten der Hoffnung zu wohnen. Ich gebe also meine eigenen Horizonte nicht auf, und ich beharre nicht auf ihnen, weil auch diese mir zu kläglich sind. Ich bin ein Freigeist mit Wohnrecht am fremden Ort. Ich lasse mich von ihnen in ihren Glauben ziehen. Ich muss sie nicht mit mir selber füllen, mit meinem eigenen kärglichen Geist und Glauben. Sie ziehen mich, den Fremden, in den großen Strom des Glaubens meiner Toten. Ich wehre mich nicht gegen sie. Ihre Fremdheit ist meine Gabe. Ich liebe die alten Schläuche.

Wäre ich nur konservativ, könnte ich es dabei belassen. Aber ich wäre dann nur Wiederholer der Sprache der Toten. Wer genau lebt, denkt, spricht wie seine Toten, lebt nicht in ihrem Geist. Wer in einer Tradition lebt, hat drei Aufgaben. Er muss sich in Demut an ihr messen. Er muss diese Tradition reinigen. Es ist nicht ohne Weiteres ausgemacht, dass diese Tradition die Überlieferung des Geistes ist. In ihr steckt auch der Verrat und die Schuld unserer Toten. Wer Tote hat, muss ihnen auch vergeben können, wie unsere Kinder uns vergeben müssen. Die dritte Aufgabe: Er muss die Lieder und die Hoffnungsgeschichten weiterdichten und neue Schläuche für den alten guten Wein finden. Die Texte der Bibel, die normativen Texte der Reformationszeit, Luthers und Zwinglis Sprache sind nicht der Amboss, auf dem unser Geist und unsere Sprache zertrümmert werden. Wir dichten weiter, wir sind Freigeister. Wir werden unseren Enkeln die fremden und eigenen Glaubensgedichte überliefern und sie damit ernähren. Und die Enkel werden unsere eigenen Irrtümer richten. Wir sind wahrheitsfähige und irrtumsfähige Leute ­ wie es auch unsere Toten waren.