Lena Uphoff
20.10.2010

Man kennt sich. Wie lange eigentlich schon? Lassen Sie mich mal rechnen: Vor einundzwanzig Jahren bin ich Werner in einer Kneipe begegnet. Charlie, ein gemeinsamer Freund, hatte ihn mit an den Tisch gebracht. Ich hatte eigentlich keine Lust, ihn näher kennen zu lernen. Und noch weniger wollte ich über meinen Beruf reden. Es war die Zeit von Günter Wallraffs legendärem Buch über das Innenleben der "Bild"-Zeitung, "Der Aufmacher". Journalisten mussten Nichtjournalisten ständig erklären, dass nicht alle Reporter gleich seien. Und dass sie keine Nachrichten fälschten und keine Interviews erfanden. "Was machst du beruflich?" ­ Werner war einfach zu neugierig. "Waschsalon", sagte ich, "Starwash. Vor vier Wochen eröffnet. Acht Vollautomaten, vier Trockner." Werner fragte nach. Und mir begann das Rollenspiel Spaß zu machen. Nicht übertreiben, sich keine Blöße geben, lässig nachladen: "Finanzierung war nicht ganz einfach." Werners Augen begannen zu leuchten. Bei welcher Bank, zu welchem Zins ich den Kredit aufgenommen hätte. Ich merkte, es wurde knifflig: "Commerzbank, acht Prozent." Werner lachte schallend. Da hätte ich mal zu ihm kommen sollen! Zweigstelle Nord der So-und-so-Bank. Acht Prozent! Wahnsinn! Die hätten mich ganz schön übers Ohr gehauen! Ein Banker also.

Eine halbe Stunde, glaube ich, habe ich das Spiel noch durchgehalten. Als ich ihm meine tatsächliche Identität offenbarte, reagierte Werner höchst anständig: "Toll hast du das gemacht. Perfekt. Aber an der Ecke mit dem Kredit habe ich schon einen Augenblick lang gezweifelt. So doof wirkt er gar nicht, dachte ich, dass er sich so reinlegen lässt."

Als ich ein halbes Jahr später mein Auto zu Schrott fuhr und finanziell in Schwierigkeiten geriet, ging ich zu Werner. Er entwickelte für mich ein Entschuldungskonzept, das mich ein paar Monate piesackte, aber aus der Schuldenfalle holte. Werner war mir ein Freund geworden. Nicht, dass wir besonders viel miteinander hätten anfangen können. Aber man half sich, man vertraute einander. Da war viel Respekt und daraus wuchs die Sympathie.

Meinen Geburtstag vergisst Werner nie. So wenig wie den von Hans oder Charlie oder Mike. Und wenn wir Freunde seinen vergessen, registriert er das durchaus und ist auch ein klein wenig beleidigt. Resigniert seufzt er dann: "Na ja, so seid ihr eben."

Zu seiner zweiten Hochzeit habe ich ihm den Pastor besorgt, wie schon zur ersten. "Du kennst dich in dem Metier doch aus." Und bei dieser Hochzeit passierte es: Ich vergaß mein Hochzeitsgeschenk. Und als ich von unserem Freund Charlie erfuhr, dass Werner das beim Sortieren der Gaben für die Bedanke-mich-Briefe bemerkt und in einem Telefonat erwähnt hatte, schämte ich mich sehr. Und gleichzeitig war auch ich gekränkt, dass er mit Charlie darüber geredet hatte.

Ich beschloss, Werner und seiner Frau das Geschenk mit einem Brief nachzusenden. Ich schob es immer weiter raus. Und schämte mich immer mehr. So sehr, dass ich mich nicht mehr traute, ihn anzurufen. Zu seinem Geburtstag auch nicht. Und das würde er bestimmt als Beweis meiner Schlechtigkeit ansehen. Werner war eben so, das wusste ich. Er vergaß nichts. Das Mäuerchen wuchs und wuchs. Vor Scham mochte ich mich nicht mal mehr bei Charlie nach Werners Befinden erkundigen. An meinem Geburtstag im vorigen Jahr war ich außer Landes.

Am Geburtstagmorgen in diesem Jahr klingelte das Telefon. "Hallo, hier spricht Werner. Ich möchte dir alles Gute wünschen." Ich stammelte eine Entschuldigung für mein langes Schweigen. Ich versuchte zu erklären. Werner schnitt mir das Wort ab: "Lass den Quatsch! Was soll das? Vergiss das alles. Es ist doch nicht wichtig. Wir sind schließlich Freunde. Lass uns bald zusammen ein Glas Wein trinken. Ich vermisse dich." Aber das Hochzeitsgeschenk werden Werner und seine Frau doch noch bekommen. Gleich setze ich mich hin und schreibe den Brief dazu.

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