Der Protagonist läuft einen Feldweg entlang. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen
"Ich habe immer weit über meine Kraft hinaus gearbeitet. Vielleicht wollte ich damit die Schuld meines Vaters abtragen"
Andreas Reeg
Familiengeheimnisse
Sein Vater machte tödliche Menschenversuche
Der Sohn schlug sich Jahrzehnte mit der Schuld des Vaters herum - und arbeitete immer weit über seine Kraft hinaus
Tim Wegner
12.06.2013
4Min

Johannes Lützberg, Jahrgang 1945*:

Mein Vater hat sich im Juli 1945 in Berlin das Leben genommen, mit Zyankali. Man hatte ihn wohl zur Verantwortung ziehen wollen. Meiner Mutter sagte man was von schweren Infek­tionen, aus Rücksicht auf die Hochschwangere. Ich kam zwei Monate später auf die Welt, als fünftes Kind.

Das Bild meines Vaters, das man mir malte, habe ich geliebt: der große Mediziner, jung Professor geworden, von den Patienten verehrt, dazu ein liebevoller Vater. Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben, ich wollte ihm nacheifern, auch Arzt werden.

Mit 14 lud mich die ehemalige Sekretärin meines Vaters nach Berlin ein. Das war für mich das Allergrößte: die Stadt, in der mein Vater gelebt hat, in der er begraben ist! Aber meine Mutter war dagegen: Sie habe Angst, die Russen würden mich aus dem Zug holen. Die hätten meinen Vater gesucht. Weil er "Versuche" gemacht habe. Menschenversuche. Ich ging in mein Zimmer, nahm das Foto meines Vaters von der Wand und schmiss es in die Ecke. Nach Berlin fuhr ich trotzdem. Ich besuchte sein Grab und ließ mir von der Sekretärin erzählen, was sie an meinem Vater geschätzt hat. Mit meiner Mutter habe ich nie mehr darüber geredet.

Ich wurde schlecht in der Schule, konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Eine Nenntante gab mir schließlich das Buch von Mitscherlich über den Nürnberger Ärzteprozess. Aber mein Vater kam darin nicht vor – der Prozess richtete sich ja nur gegen noch lebende Ärzte. Über die Versuche meines Vaters fand ich nirgendwo etwas, nur, dass er ein früher Nazi gewesen ist. Arzt wollte ich jedenfalls nicht mehr werden. Sondern Lehrer.

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Schwere und Tiefe der Auseinandersetzung von Herrn Lützberg* mit der Täterschaft seines Vaters sind in dem obigen Artikel nur angedeutet. Zu seinem Mut, sich diesem Thema zu stellen weit über dieses Interview hinaus, und zu dem Ausmaß seiner - eben nicht verdrängten oder verleugneten - persönlichen Betroffenheit möchte ich ihm hier meinen Respekt und meine Hochachtung aussprechen. Er hat das schwere Erbe seines Vaters nicht nur abgelehnt, sondern durch seine Ideale und sein Engagement mit seinem Leben bewusst und erfolgreich anders angetreten.

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Respekt, Herr Lützberg! Manchmal ist es wirklich besser, wenn man nicht alles weiß! Hoffentlich können Sie Ihrem vater verzeihen!

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Zitat aus dem Artikel: "Die Auseinandersetzung mit einem toten Vater ist schrecklich" Ich würde sagen, mit einer Leiche kann man sich nicht auseinandersetzen. Deshalb sollte man es erst gar nicht versuchen. Manche Probleme löst man, indem man sie sich nicht macht. Das hier ist dafür ein typischer Fall. _______________________________ Falls einen die Neugierde umtreibt, was Papi getrieben hat, als es noch keine Bundeskanzler, sondern Reichskanzler gab, wird man darauf kommen, dass erfolgreiche Menschen eben alles machten, was für den Erfolg nötig war. Das ist heute kein bisschen anders als damals. Warum das so ist, ist eine Frage, mit der sich auseinanderzusetzen erhellend sein könnte. Sich schuldig zu fühlen für das, was der Vater gemacht hat, ist ein Fehler.