Adam Panczuk
Trotzige Enkel
Sein Opa trug eine SS-Uniform. Ihrer starb im Konzentrationslager. Gabriela Maciejowska und Uwe von Seltmann haben einander geheiratet. Und ein Buch über die Großväter geschrieben
20.06.2012

Neben dem Fotoalbum auf dem Holztisch stapeln sich dicke Hefter und Mappen. Darin Kopien, Übersetzungen und Briefe – Dokumente aus der Vergangenheit, die Gabriela und Uwe von Seltmann zusammentragen. Das deutsch-polnische Ehepaar sammelt Zeugnisse aus dem Leben seiner Großväter. Zwei Männer, die sich auf den Familienfotos kaum voneinander unterscheiden: junger Mann mit Frau, umringt von Kindern. Den Österreicher Lothar von Seltmann erkennt man nur an einem Detail: der SS-Rune am Uniformkragen.

Gabriela und Uwe von Seltmann bewohnen eine enge Wohnung im jüdischen Viertel Kazimierz, Krakau. „Dass aus­ge­rechnet wir ein Paar geworden sind – anfangs hat sich Gabriela oft gefragt, was wohl unsere Großväter dazu gesagt hätten“, sagt Uwe von Seltmann.

Sie lernten sich in einer langen Julinacht 2006 in Krakau kennen. Die Künstlerin Gabriela Maciejowska war mit Freunden im Café Singer. Der Journalist Uwe von Seltmann saß allein am Tisch gegenüber. Die Gruppe bat ihn, ein Foto zu machen. Die beiden kamen ins Plaudern.

 

Er erzählte, dass sein Vater in Krakau geboren wurde. In den frühen Morgenstunden war das Gespräch bei seinem Großvater angelangt: Wie er über ihn recherchiert hatte – gegen Widerstände in der eigenen Familie. Wie er 2004 ein Buch über ihn veröffentlicht hatte: „Schweigen die Täter, reden die Enkel“. Lothar von Seltmann war Nationalsozialist gewesen, ab 1940 in Polen stationiert und dort für Propaganda zuständig. – „Und mein Groß­vater wurde in Auschwitz ermordet“, sagte Gabriela.

 

 

Zwei Lebenswege, in einem Buch vereint

Die damals 35-Jährige wollte von Seltmanns Buch lesen. Beim nächsten Krakaubesuch brachte er es ihr vorbei, ein Jahr darauf heiraten sie. „Trotz der unterschiedlichen Vergangenheit unserer Familien – oder gerade deswegen“, sagt Uwe.

Das Ehepaar hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte seiner Großväter aufzuarbeiten, die sich nie begegnet sind. Michał Pazdanowski, der als 41-Jähriger im April 1944 in Auschwitz starb, und ­Lothar von Seltmann, der sich mit 28 Jahren im Februar 1945 in Swietoszów vermutlich das Leben nahm. Ihre Lebenswege werden nun von einem Buchrücken zusammengehalten: „Todleben. Eine deutsch-polnische Suche nach der Vergangenheit.“ Das Buch ist 2012 erschienen, auf Deutsch und Polnisch.

Die Geschichte seines Großvaters hatte Uwe von Seltmann bereits für sein erstes Buch recherchiert. Er hatte ein Puzzle aus Archivmaterial, alten Briefen, Büchern und Aufzeichnungen zusammengesetzt – und mit Menschen gesprochen, die ihn erlebt hatten.

Lothar von Seltmann war bereits als 14-Jähriger der Hitlerjugend in Österreich beigetreten. Wegen eines Sprengstoff­an-schlags flog er von der Schule. Also ­studierte der Grazer in Deutschland, etablierte sich in der HJ. Als die Deutschen 1938 in Öster­reich einmarschierten, kehrte er zunächst in seine Heimat zurück. Im Zweiten Weltkrieg leitete er von Lublin aus Umsiedlungsaktionen deutscher Minderheiten auf polnischem Gebiet. Damals gehörte er zum Stab des Österreichers Odilo Glo­bocnik, der in Polen für die „Aktion Reinhardt“ verantwortlich war – und damit für die Ermordung von rund zwei Millionen Juden, Sinti und Roma.

Lange wusste Gabriela fast nichts von ihrem Großvater

Im Frühjahr 1943 half Lothar von Seltmann, den Warschauer Ghettoaufstand niederzuschlagen. Schon möglich, dass der sechsfache Vater nach dieser Erfahrung mit der Naziideologie gebrochen hat.

Plötzlich stagnierte seine steile Karriere. Auf den letzten Fotos wirkt der damals 28-Jährige mit den dunklen Falten im Gesicht abgeschlagen und wehmütig. An dem Tag, als die Rote Armee seine Division erreichte, sahen Kameraden, wie Lothar von Seltmann mit einer Waffe loszog. Er kehrte nicht mehr zurück. Niemand weiß, ob er sich selbst tötete oder erschossen wurde.

Seit sein erstes Buch über den Großvater 2004 erschien, hat Uwe Seltmann weitere wichtige Hinweise bekommen. „Einer der größten Trugschlüsse meines Lebens war zu denken, mit diesem Buch sei alles ab­geschlossen“, sagt der heute 47-Jährige. Zumal er mit seiner Frau nun auch die ­Geschichte ihres Großvaters Michał Paz­danowski kennengelernt hat.

Lange wusste Gabriela fast nichts von ihm. Pazdanowski wurde 1903 als Sohn eines Lehrers und einer Hausfrau geboren und leitete später eine Landwirtschaftsschule. „Mutter und Großmutter haben unter dem Zweiten Weltkrieg so sehr ge­litten, dass sie mich und meine Geschwister dazu erzogen haben, keine falschen Fragen zu stellen.“ Wenn doch, konnten die Frauen ihre Tränen nicht zurückhalten.

 

Ein Puzzle aus alten Briefen, Büchern und Notizen

Auch als der Schwiegersohn aus Deutschland fragte: „Wer war dieser Michał Pazdanowski? Habt ihr noch Fotos oder Briefe von ihm? Warum ist er deportiert worden?“, schwieg Gabrielas Mutter weiter. Ebenso Tante Inka, sie war vier Jahre alt, als der Vater in einer Nacht verschleppt wurde.

Nur Gabrielas Bruder Zbyszek kramte hervor, was er über Jahre aufbewahrt hat: die letzten schriftlichen Zeugnisse eines Mannes, dem im Konzentrationslager Maj­danek die Kräfte ausgehen. Berichte eines Freundes, der seinen Tod bezeugte. Belege, dass Michał Pazdanowski in der Schweiz Alpwirtschaft studiert hatte. Dass er den ersten Krakauer Eishockeyclub mitgegründet hatte und selbst dort spielte. Dass er zeichnete und eine sehr enge Verbindung zu seiner Mutter hatte. 

Zuletzt schaffte Zbyszek ein großes ­Fotoalbum heran. Bilder aus den 1930er Jahren zeigen Michał Pazdanowski und seine Familie in einem friedlichen Bergdorf in der heutigen Ukraine, das fast zwei Jahrzehnte zu Polen gehörte. Dort hatte er für das Bergvolk der Huzulen eine Landwirtschaftsschule geplant, mit aufgebaut und später geleitet.

Uwe wollte dorthin fahren. Gabrielas Eltern rieten ab. Das Dorf sei ein Unglücks­ort. Tatsächlich erlebt sie dort eine irri­tierende Nacht: „Um drei Uhr wachte ich panisch auf. Genau zu der Zeit, als vor 68 Jahren mein Großvater geholt wurde. Ich hatte Angst, jetzt holen sie mich.“

 

In der Ukraine trafen sie die ehemalige Nachbarin von Gabrielas Großeltern

Dabei wurde das Paar in der Ukraine herzlich aufgenommen, sie trafen eine ehemalige Nachbarin von Gabrielas Großeltern. Sie hatte die Frau und die drei Kinder von Michał Pazdanowski nach dessen Verschleppung heimlich mit Brot, Butter und Milch versorgt und so ihr Leben gerettet.

Der Pole und seine Familie seien sehr freundlich gewesen, berichtete die alte Frau. Sie hätten nie zwischen Polen, Ukrainern und der Minderheit der Huzulen unterschieden. Das Gebäude der  Landwirtschaftsschule steht noch, heute ist darin das örtliche Krankenhaus unter­gebracht.

Wenige Wochen nach ihrer Ukraine­reise erfahren Gabriela und Uwe von ­Seltmann, dass Lothar von Seltmann Chef­redakteur des Propagandablattes „Kolo­nistenbriefe – Listy Kolonistów“ war. Die Ausgaben aus den Jahren 1941 bis 1944 in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig belegen, wie er für die Umsiedlungsaktionen agitierte: „Polen raus! Juden raus! Deutsche rein!“ Das erschüttert Uwe, der selbst einige Jahre Chefredakteur war – er leitete eine evangelische Wochenzeitung.

Die Akten und Chroniken in den Archiven und Bibliotheken zu lesen und Briefe zu transkribieren überließ Gabriela von Seltmann ihrem Mann. Sie organisierte die Reisen, telefonierte. Das Paar fuhr nach Auschwitz. Gabriela hatte die Gedenkstätte gemieden, obwohl sie nur 60 Autominuten von Krakau entfernt liegt.

Sie brauchten Jahre, um Tante Inka zum Reden zu bewegen

Und sie fuhren nach Frankreich, wohin Tante Inka 1970 ausgewandert war, um den Ängsten und Alpträumen vom Krieg zu entkommen. Gabriela und Uwe von Seltmann brauchten Jahre, um Tante Inka zum Reden zu bewegen.

Die Tante erzählte schließlich, wie sie als kleines Mädchen zu Gott gebetet habe: Er möge ihren Vater, einen frommen Katholiken, doch zurückbringen. Und wie sie gehofft habe, man möge stattdessen sie mitnehmen. Noch im Lager habe Gabrielas Großvater an Nächstenliebe und Gerechtigkeit festgehalten. Mit Hilfe eines Schwagers hätte er fliehen können. Zweimal lehnte er mit den Worten ab, er könne nicht auf sich nehmen, dass dann andere Häftlinge für ihn sterben müssten.

„Nach unserem Gespräch“, erzählt Uwe, „hat sich Tante Inka bei uns bedankt: Heute ist mein ­Vater zurückgekehrt.“ Ausgerechnet ein Deutscher, dazu der Enkel eines Nazis, hatte ihr geholfen.

Die polnische Edith-Stein-Gesellschaft und die Heinrich-Böll-Stiftung halfen, eine Dokumentation über Gabriela und Uwe von Seltmanns Großväter zu erstellen. ­Zuspruch erfährt das Paar von vielen, die Ähnliches in ihren Familien erleben. Ein junger Israeli mit polnischen und österreichischen Vorfahren schrieb: „Holocaust und Zweiter Weltkrieg haben uns zu­sammengebracht. Vielleicht ist das die Richtigstellung, die die Welt braucht. Wenn wir zusammenkommen, kehren wir alles um, was Hitler getan hat.“

 

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