Jüdisches Landleben
Jesu Leben ist eine Geschichte vom Dorf aus einer längst vergangenen Welt.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

So ein Landei aber auch! "Amar", sagte der Galiläer auf dem Jerusalemer Markt, "amar" wolle er haben. Unverständlich und urkomisch fanden das die Leute: "Was willst du? Etwas zum Reiten (chamãr, Esel), zum Trinken (chamar, Wein), zum Anziehen ('amar, Wolle) oder zum Opfern (immar, Lamm)?"

Die Anekdote aus dem Talmud, dem jüdischen Kommentarwerk zur Bibel, zeigt: Offenbar sprachen die Bewohner des ländlichen Galiläa die Kehllaute im Aramäischen nicht richtig aus. Und Städter aus Jerusalem fanden das zum Totlachen. Auch der Jünger Simon Petrus sprach diesen Dialekt (Matthäus 26,69ff.): "Du bist bestimmt auch einer von denen", sagte die Magd des Hohepriesters nach Jesu Verhaftung- einer von denen aus Galiläa. Sie war wohl ähnlich herablassend wie die Leute vom Markt.

Städter sind gut informiert, bei ihnen kommen neue Moden und technische Entwicklungen schneller an. Ihr Umland wirkt dagegen traditionell, manche sagen: rückständig. Wohl auch deshalb hielten sich Städter schon immer für etwas Besseres. "Was kann aus Nazareth Gutes kommen! ", rief Nathanael, als er noch unterm Feigenbaum saß und ihm Philippus von Jesus vorschwärmte (Johannes 1,46). Nathanael war zwar Galiläer. Doch stammte er aus Betsaida, einer Siedlung am See Genezareth, und nicht aus so einem Paar-Hun-dert-Seelen-Kaff wie Nazareth.

Die Enkel von Jesu Bruder Judas hatten Schwielen an den Händen

Jesusgeschichten sind Geschichten vom Land. Nazareth war eine Häuseransammlung in der Nähe der prächtigen hellenistischen Stadt Sepphoris, die die Bibel mit keiner Silbe erwähnt. Jesu Vater war einfacher Handwerker. Der Kirchenchronist Hegesipp, der hundert Jahre nach Jesus lebte, berichtet von Enkeln von Jesu Bruder Judas. Als Kleinbauern bewirtschafteten sie 39 Morgen Land.

Weil sie sich als Nachfahren des jüdischen Königs David ausgaben, wurden sie gerichtlich angezeigt und vor Kaiser Domitian geführt. Domitian sah ihre Schwielen an den Händen, sie waren arme Leute vom Land. Er verurteilte sie nicht, er verachtete sie bloß.

Jesus war kein Eremit, ihn zog es nicht bloß in die Abgeschiedenheit der Wüste. Er suchte Menschen in ihren Siedlungen auf. Er wohnte beim Fischer Simon Petrus in Kapernaum am See Genezareth und wanderte von dort durch kleine Orte wie Magdala, Chorazim und Betsaida. Insofern sind Geschichten von Jesus tatsächlich Geschichten vom Dorf.

Jesus erzählte auch selbst vom ländlichen Leben, das alles andere als idyllisch war. Seine Gleichnisse handeln von Pächtern und ihren verhassten Herren, von Schuldnern und verschlagenen Knechten, von Landwirten, denen ein Teil der Ernte verwelkt und verdorrt, und vom reichen Kornbauern, der frühzeitig stirbt. Wie seine Zeitgenossen glaubte Jesus, ein schreckliches Gottesgericht stehe bevor. Und doch verbreitete er Hoffnung, predigte Gottvertrauen, heilte und stiftete andere zu Menschenliebe an.

Wo die Haustüren eingetreten und die Fahrstühle zerstört sind

Der Evangelist Lukas sieht in Jesus den Heiland der Armen, der Chancenlosen. Er lässt seine Geburt unter den Outlaws der Antike stattfinden, unter Hirten. Es sind schmierige, wenig vertrauenerweckende Gestalten, die sich an der Futterkrippe in Bethlehem einfinden. Die Geschichte von Jesu Geburt ist eine Legende, mit ihr will der Evangelist seinem bürgerlichen Publikum klarmachen: Mit idyllischem Landleben hatte Jesu Botschaft nichts zu tun.

Zu allen Zeiten haben Prediger dies in Erinnerung zu rufen versucht. Franz von Assisi stellte eine Krippe auf, um seinen Zeitgenossen bildlich vor Augen zu führen, wie erbärmlich es bei Jesu Geburt zugegangen sein muss. Heute sammeln die Kirchen zu Weihnachten für Brot für die Welt und Misereor, um an Menschen zu erinnern, denen es ähnlich geht.

Jesusgeschichten spielen nicht auf dem Land, weil es abgeschieden und rückständig ist. Sondern weil dort die Armen lebten, denen Jesus Hoffnung gab. Die Tagelöhner auf den großen Latifundien und die Kleinbauern auf ihren kargen Schollen. Leute, die kein Geld für Bildung übrig hatten.

Käme Jesus heute nach Deutschland, hielte er sich vielleicht woanders auf. Vielleicht in Hochhäusern, in denen Fahrstühle zerstört und Haustüren eingetreten sind. Wo Kinder ohne Frühstück zur Schule gehen und Junkies sich unterm Spielgerüst die Spritzen setzen. Er würde einsame Alte besuchen, verwahrloste Kinder heilen und in Kleinkriminellen Menschen mit Potenzial sehen. Und manche der Reichen aus den Villenvororten würden ihn und die, mit denen er Umgang hat, verachten.