Kirchgang
Als wäre die Zeit stehengeblieben
Zu Besuch bei einer katholischen Gemeinschaft, die von ‚Jesus dem Arbeiter‘ spricht und dank des Glaubens, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nie aufgeben hat
Kämpferische Dekoration an der Kapelle 'Nuestra Senora de la Paz' in Santiago de Chile
Kämpferische Dekoration an der Kapelle 'Nuestra Senora de la Paz' in Santiago de Chile
Malte Seiwerth
20.10.2024
3Min

Sonntag, 10 Uhr, Cerro Navia, San­tiago de Chile: Die kalte Wintersonne scheint auf den Zement vor der kleinen Kapelle im Westen der chilenischen Hauptstadt Santiago. Hunde bellen, von weitem ist das Rauschen des Mapocho-Flusses zu hören. In der ­Kapelle versammeln sich 17 Menschen zum sonntäglichen Gottesdienst. Die Kirchgänger begrüßen sich freundlich. Pfarrer Álvaro Tamblay kommt mit ­etwas Verspätung und zieht sich schnell sein Gewand über den Kopf.

Die meisten Anwesenden sind weit über 50 Jahre alt. Nach ersten Ge­sängen und Gebeten liest die Gemeinschaft zusammen die Geschichte der wundersamen Brotvermehrung. Danach wird diskutiert: über die heutige Bedeutung von Solidarität unter jenen, die kaum das Nötigste haben. Es sei wichtig, den Worten auch Taten folgen zu lassen, meint ein Kirchgänger. In der Kapelle "Nuestra Señora de la Paz" wirkt es so, als sei die Zeit stehen­geblieben. Gegründet wurde sie im Jahr 1970 als Teil der Armensiedlung Sara Gajardo, die am unteren Flusslauf des Mapocho liegt, dort, wo die Stadt ­früher aufhörte. Die im gleichen Jahr gewählte sozialistische Regierung ­unter Salvador Allende hatte den Be­wohnern das Grundstück zugewiesen. Amanda ­Aroyo, damals Anfang 20, er­innert sich: "Wir bekamen ein mit ­Stöcken abgegrenztes Stück Land, wo wir selbst ein Plumpsklo und ein Haus errichten mussten." Es war so wenig und doch mehr, als sie je erhalten hatten.

Wenige Besucher in der Kapelle 'Nuestra Senora de la Paz' in Santiago de Chile

Die Wandmalereien in der Kapelle erzählen von der Kolonialisierung Amerikas und den Kämpfen der Indigenen sowie der Arbeiterinnen und Arbeiter für mehr Unabhängigkeit und politische Teilnahme. Die Regierung Allende war damals für viele von ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Umso mehr traf sie die Repression der bis 1990 andauernden Militärdiktatur, als in den ersten Monaten nach dem Putsch vom 11. September 1973 Hunderte Leichen politischer Gegner in den Mapocho geworfen wurden. Im Gottesdienst kommt Tamblay von der Kanzel herunter und bewegt sich zwischen den wenigen Kirchgängern. Es wirkt wie ein Gespräch von Mensch zu Mensch. Der Kirchgang gebe ihr Kraft, die schweren Zeiten durchzu­stehen, sagt Amanda Aroyo. Ihr Sohn wurde während der Diktatur vom ­Militär gefoltert und entkam nur durch Glück dem Tod. Sie sagt: "Ich habe so viel erlebt und konnte immer weitermachen, weil ich an den Herrn glaube."

Heute kümmert sich die Gemeinde um Obdachlose in der Siedlung und die Bewohner einer kürzlich geräumten besetzten Siedlung nur ein paar Kilometer flussabwärts. Es sind die Ideen der ­Befreiungstheologie, die in der Kapelle vorherrschen. Der Interpretation der Bibel, die in Jesus einen frühen Sozialisten sieht. Die katholische Kirche war nicht immer glücklich mit der Gemeinschaft. Sie schickte mehrere Pfarrer, die versuchten, das befreiungstheo­logische Erbe der Gemeinschaft zu ­zerstören.

Die 54-jährige Paola Horta Millan ­guir erzählt, dass sie in den 2000er ­Jahren die politische und soziale Arbeit der Gemeinde mit Kindern und Jugendlichen wieder aufnehmen wollten. "Aber als der damalige Pfarrer erfuhr, dass wir mehr als nur beten wollten, schmiss er uns raus." Sie würde gern die katholische Kirche von innen verändern, beispielsweise in Fragen der Abtreibung oder der straffen internen Hierarchien, erzählt Horta Millanguir.

Lesen Sie hier einen Kommentar zum Thema Abtreibung: Warum es richtig ist, dass die Evangelische Kirche in Deutschland aus der Initiative "Woche für das Leben" ausgestiegen ist.

Pfarrer Tamblay ­beendet die gottesdienstliche Diskus­sion über die heutige Bedeutung der wundersamen Brotvermehrung und zählt seine eigenen solidarischen Aktivitäten auf. Dann geht er wieder nach vorn und beginnt, mit der ­Gemeinde zu singen. Zum Schluss gibt es das Abendmahl und den Segen, bei dem die Kirchgänger und der ­Pfarrer Tamblay durch die Kapelle gehen und sich gegenseitig umarmen.

Die Gemeinschaft ist klein, sie ist alt – wie lange kann sie überleben? "Die Jugend", sagt Kirchgänger Carlos ­Melin, "kommt zwar zu unseren politischen Veranstaltungen, doch dem Gottesdienst bleibt sie fern."

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.