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Kinder mögen Musik. Das ist keine besonders tiefschürfende Erkenntnis. Die Frage, die mich schon länger umtreibt ist: Lieben Kinder nur Kindermusik? Muss es quietschen und pfeifen und süß sein? Hoppe-hoppe-dingsbums tralalala? Oder ist das eine Projektion von Erwachsenen? Könnte mein Kind auch glücklich werden, wenn ich ihm Bob Dylan vorsinge oder ihm alte „Talking Heads“-Platten vorspiele? Wäre eine Jazz-Playliste auf Spotify verwerflich? Ich möchte mein Kind ja gar nicht mit meinem Musikgeschmack missionieren. Nein, ich würde nur gerne nicht unter der Musik leiden, die zu Hause läuft. Also frage ich mich: Hat mein Kind ein urtümliches, in sich einprogrammiertes Bedürfnis nach banalen Kinderliedern? Oder kommt dieses Bedürfnis in ihm nur auf, weil es spätestens ab der Kita aktiv damit bedudelt wird?
Wie auch immer: Als ich an einem Tag alleine für das Kind zuständig war, fragte ich meinen Kumpel Marvin, Vater eines gleichaltrigen Kindes, was wir unternehmen könnten. Marvin antwortete umgehend: Komm doch mit zur Babymusikstunde!
Die Babymusikstunde
Babymusikstunde – das klang harmlos. Das klang vielversprechend! Ein kostenloser, öffentlicher Kurs, ohne Anmeldung. Ein guter Ort, um sich mit anderen Eltern auszutauschen. Außerdem kann es nicht schaden, die Kleinen frühzeitig darauf vorzubereiten, sich mit Instrumenten, Tonlagen und Genres auseinanderzusetzen und rhythmische Bewegungen zu lernen – auch wenn eine Studie mittlerweile widerlegt hat, dass Kinder, die früh musikalische gefördert werden, später intelligenter sind.
Pünktlich treffen Marvin und ich beim Kurs ein und betreten einen geräumigen Raum mit einem Klavier und einer Reihe weiterer Instrumente. Auf dem Boden liegen Yogamatten. Auf den Matten sitzen ein Dutzend Mütter und ihre Kinder. Außer Marvin und mir sind noch zwei weitere Männer im Raum. Der eine versteckt sich hinter seiner Frau. Der andere ist auch alleine mit Kind da. Die Väter werfen sich emanzipierte Blicke zu.
Wir setzen uns auf eine Yogamatte. Die Musikpädagogin beginnt auf der Gitarre zu spielen. Alle Mütter (und Väter) müssen reihum den Namen ihres Kindes sagen und ob es lieber klatschen, hüpfen oder tanzen will. Je nach Wunsch wird ein kleiner Willkommensvers gesungen, mit dem Namen des Kindes und einer kleinen Klatsch-, Hüpf- oder Tanzeinlage.
Gefährliche Klanghölzer
Das Faszinierende: Viele der Mütter scheinen umgehend in eine Art Trance zu verfallen. Mit freudestrahlenden Gesichtern singen sie lauthals und enthusiastisch die Kinderlieder mit. Etwas schüchtern versuche ich den Text nachzubrummeln und frage mich: Wir singen doch für die Kinder – und nicht für uns, oder? Sind wir uns da einig? – Möglicherweise nicht. Ein Blick nach links: auch mein Kumpel Marvin trällert mit textsicherem Bariton Lieder über Vögelchen, Däumchen und weitere niedliche Lebewesen oder Körperteile. Angeblich ist er erst zum zweiten (oder dritten?) Mal hier. Sein Sohn hat sich schon vor Minuten krabbelnd auf den Weg gemacht, Instrumente aus den Zimmerecken zu suchen und darauf herumzukauen.
Die Musikpädagogin teilt erst bunte Tücher und dann sukzessive komplexere (und gefährlichere!) Instrumente aus: Rasseln, Tambourine, Klanghölzer. Die meisten Instrumente landen augenblicklich in sabbernden Mündern. Die Kinder dürfen unter einem zirkuszeltartigen Tuch durchrennen oder krabbeln. Sie haben sichtlich große Freude daran. Das heizt sie an. Sie werden unruhig, dann überdreht, schließlich wild.
Mit der Zeit bricht Anarchie aus. Ein Mädchen zieht einem anderen Mädchen mit dem Klangholz eines über. Die Mutter der Geschädigten weist die Täterin vehement zurecht. Fast alle Eltern sind nun vor allem damit beschäftigt, ihre Kinder zu beschützen oder davon abzuhalten, andere Kinder zu verletzen. Friedlicher werden die Kleinen durch die fröhlichen Melodien nicht unbedingt. Der Weg vom Vögelchen zum Veilchen scheint kurz. Über das Chaos hinweg ruft die Musikpädagogin, dass die Stunde nun beendet sei. Im Hintergrund wickeln die ersten Mütter ihre Kinder auf den Yogamatten. Ob mein Sohn tatsächlich Gefallen an den Kinderliedern hatte oder nur an dem bunten Treiben, lässt sich in diesem frühen Alter leider noch nicht feststellen. Auf meine Frage antwortet er mit „höhöhöhö“. Ich glaube, er freut sich schon auf die nächste Musikstunde – und ich mich auf das erste Taylor-Swift-Konzert mit ihm im Jahr 2040.