Pastetli mit Brätchügeli
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Vico Torriani, Musterland Schweiz und Pasteten
In der Schweiz, in der Schweiz, in der Schweiz…
Freitag spielt England gegen die Schweiz. Ich denke da an ein Lied von Showmaster Vico Torriani, seine traurige Kindheit – und bereite ihm zu Ehren "Pastetli mit Brätchügeli"
03.07.2024
4Min

Kaum tauchen die Schweizer bei der EM auf, dröhnt es in meinem Kopf: "Im Sommer scheint d′Sonne, im Winter da schneit's / In der Schweiz, in der Schweiz, in der Schweiz ... / Die Berge sind hoch und das Echo klingt weit / Im Emmental, Emmental, Emmental, Emmental / Macht das viel Freud ... / Mitten in den Bergen auf der Alm am Thunersee /Schaut die braune Kuh, ganz verwundert zu ..." Ihr wundert Euch?

Ich werde das erklären.

Die deutlich Älteren unter uns können sich vielleicht erinnern. An Vico Torriani, den Schweizer Koch, Konditor und Kellner, der auch Rezeptbücher geschrieben hat. Vor allem war der Engadiner für seine Schlager und Fernseh-Shows beliebt - ein Entertainer, den meine Eltern liebten und ich als Rock’n’Rollerin pflichtgemäß verabscheute. Aber wie das so ist – je blöder man ein Lied findet, desto besser kann man es sich merken.

Ich bin älter geworden und, wie ich hoffe, verständiger, einfühlsamer. Das ist auch notwendig. Vico Torriani soll mit seiner Schwester von seinem neunten bis zum dreizehnten Lebensjahr als "Verdingkind" auf einem Bauernhof gelebt haben. Ein "Verdingkind" war eines, das von den Eltern freiwillig oder von den Behörden erzwungen an Pflegeeltern gegeben wurde – zur besseren "Versorgung". In Wahrheit waren die Kinder Arbeitssklaven.

Eine bittere Existenz, die oft Hunger, Misshandlung und Missbrauch mit sich brachte. Die "Verdingung" oder "Fremdplatzierung" war eine Ausbeutung von armen, rechtlosen Kindern. Sie gab es in vielen Ländern wie Deutschland, England, Österreich und Schweden. Die literarischen Zeugnisse reichen von Charles Dickens mit seinem "Oliver Twist" über den reformierten Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf bis zu Astrid Lindgren.

Es gibt zum Thema dokumentarische Filme, Ausstellungen, Tagungen, Zeitungsartikel und neben Entschuldigungen und finanziellen Entschädigungen ein Schweizer Bundesgesetz. In der Schweiz wurden Kinder von 1800 an bis in die 1960er und 70er Jahre hinein "verdingt" und "fremdplatziert". Geschätzt geht es um mehrere hunderttausend Kinder, wie die Historikerin Loretta Seglias sagt, eine Expertin auf dem Gebiet.

Da gibt es also einen längst verstorbenen Entertainer mit verborgener Lebensgeschichte, ein Musterland mit dunklen Flecken auf der weißen Weste und einige solcher "Nachbarländer". Ich weiß nicht, ob Vico Torriani mit seinen Auftritten einen Kontrapunkt setzen wollte, zu dem, was er als Kind erlebt hat. Ob seine Lieder bewusst Schwere-los daherkamen. Er hat meines Wissens selbst nicht darüber gesprochen.

Lesetipp: Ein "Verschickungskind" erinnert sich

Jedenfalls konnte er Menschen liebenswürdig unterhalten, so, dass ihnen trotz Sorgen leichter ums Herz wurde. Die Schweizer Nationalmannschaft heute ist nicht sonderlich sangesfreudig – aber mit ihrer Spielweise ebenfalls erfolgreich. Sie hat sich ins Achtelfinale vorgekämpft und dort die Italiener aus dem Turnier geworfen. Jetzt, im Viertelfinale, geht es gegen England, das sich reichlich mühsam gegen die Slowakei durchgesetzt hat.

Ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen (schon weil ich anglophil bin und "unser" Harry Kane in der Nähe von München wohnt), bereite ich am Samstagabend "Pastetli mit Brätchügeli" zu. Der halskratzige, widerständige Name gefällt mir. Gemeint sind Blätterteigpasteten mit zierlichen Klöpschen aus Brät. Geprobt habe ich das Gericht bereits. Weil ich kein Brät hatte und die Geschäfte zu waren, musste ich es selber herstellen.

Das ist Mühe, die sich lohnt. Denn so kann man Einlagen für Suppen genau so machen wie Füllungen für Strudel, Pfannkuchen, Nudeln, Gemüse, Fisch, Geflügel und Fleisch. Ich mixe 250 gr Hackfleisch mit zwei Eiweiß, einem Ei und 100 ml Schlagsahne. Alles muss eiskalt sein, weil die Masse sonst verklumpt oder gerinnt. Kräftig würzen: Mit Salz, Pfeffer, Muskat, Petersilie. Wer mag, auch mit etwas Knoblauch und Chili.

Aus dieser Masse forme ich mit nassen Händen fitzelkleine Klößchen und lasse sie in Brühe gar ziehen. Weil es natürlich eine Sauce braucht, schneide ich Zwiebeln, dünste sie in einer Pfanne mit Butter an, gebe Pilze, am besten Champignons und Schlagsahne dazu. Nun braucht es nur noch die Brätchügeli. Das gesamte Kunstwerk etwa fünf Minuten in der Pfanne köcheln lassen und würzen mit allem, was man drinhaben will.

Die feine Füllung mit Sauce in den und um die Pastetli aus Mürb- oder Blätterteig nach Geschmack anrichten. Die mache ich nicht selber. Eine Packung habe ich immer als Vorrat im Schrank. Mit Schnittlauch oder anderen Kräutern bestreuen. Dazu passen Erbsen, auch Karotten. Irgendetwas, das einen farblichen, einen lebendigen und fröhlichen Akzent setzt: Pastetli mit Brätchügeli.

"Hopp Schwiiz!" rufen die Schweizer Fans nüchtern und knapp, um ihre Mannschaft anzufeuern. Die Engländer singen neben "Three Lions (Football’s Coming Home)" vor allem das sehr zu Herzen gehende, anrührende "You’ll Never Walk Alone". So möcht‘ es sein: Hopp, stellen wir uns an die Seite derer, die verlassen sind – und kämpfen wir in dieser Welt wie die Löwen nicht bloß für uns alleine, sondern für alle, die uns so dringend brauchen.

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Kolumne

Susanne Breit-Keßler

Essen und Trinken hält Leib und ­Seele zusammen. Und darüber Neues zu lesen, macht den Geist fit. Viele Folgen lang hat Susanne Breit-Keßler Ihnen Woche für Woche ihre Gedanken dazu aufgeschrieben und guten Appetit gewünscht. Im Sommer 2024 endete die Kolumne. Die Texte sind weiter im Archiv abrufbar.