Muslima gedenken der Opfer des Attentats in Solingen
Muslima gedenken der Opfer des Attentats in Solingen
Thomas Banneyer/dpa/picture alliance
Anschlag in Solingen
Jenseits von Skandalisierung und Verharmlosung
Der Schock über den Terroranschlag von Solingen geht tief. Aber auch frühere islamistische Gewalttaten sind nicht vergessen. Nur, wie geht man damit um – als evangelischer Theologe? Und was kann oder sollte man von muslimischen Repräsentanten erwarten?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
30.08.2024
4Min

Da ist zum einen die Gewalttat. Da sind zum anderen deren Opfer und ihre Angehörigen. Da sind sodann die Menschen in Solingen. Das sind schließlich viele drängende Fragen. Was öffentliche Sicherheit, Migration, Asylverfahren, Abschiebungen angeht, sind andere auskunftsfähiger als ich. Besser beschäftige ich mich mit der Frage, wie mit muslimischem Terror umzugehen ist. (Terror gegen Muslime gibt es auch, ist aber jetzt nicht mein Thema.)

Es ist offenkundig nicht so einfach. Leicht wählt man einen falschen Ton und führt in bedenkliche Richtungen. Natürlich will ich als evangelischer Theologe nicht dazu beitragen, dass diese Tat dieses Täters ausgenutzt wird, um Stimmung gegen alle Muslime in Deutschland oder für eine rechtspopulistische/rechtsextreme Partei zu machen. Gerade als evangelischer Theologe sollte ich mich für Verständigung einsetzen. Andererseits begegnet mir in meiner Kirche nicht selten zu viel Zurückhaltung, weil man nichts Falsches sagen oder nicht falsch verstanden werden will.

Lesen Sie hier einen Kommentar zu Solingen: Wie will man das den Angehörigen erklären?

Nun lese ich aber mit etwas Abstand noch einmal die Stellungnahme des Zentralrats der Muslime zum Terrorangriff von Solingen (vom 26. August). Der Zentralrat ist der kleinste muslimische Dachverband in Deutschland, aber in der Öffentlichkeit recht präsent. Die Stellungnahme lautet:

"Wir verurteilen diesen abscheulichen Anschlag aufs Schärfste. Wir sind erschüttert und schockiert über den tödlichen Messerangriff auf friedliche Bürgerinnen und Bürger in Solingen. Wir trauern mit den Hinterbliebenen und Angehörigen und beten für die Opfer und die baldige Genesung der Verletzten. Dieser feige Anschlag ist ein feindlicher und menschenverachtender Akt gegen unsere freie Gesellschaft. Deshalb müssen wir alles dafür tun, die Wertegrundlage unserer freien, offenen und vielfältigen Gesellschaft zu schützen. Hass, Hetze, Extremismus und Radikalismus jeglicher Couleur dürfen in Deutschland keinen Platz haben."

Ehrlich erscheint mir das hier geäußerte Entsetzen und die klare Distanzierung vom Täter. Doch mir kommen auch Fragen. Natürlich ist mir bewusst, dass man solche Stellungnahmen nicht überbewerten darf. Sie sind kurz und folgen den üblichen Maßgaben heutiger Krisenkommunikation. Doch mir geht die Distanzierung hier doch etwas zu leicht von der Hand. Es wird nicht gesagt, dass der Täter – soweit wir wissen – Muslim war und aus einer bestimmten radikal-muslimischen Haltung heraus gehandelt hat. Stattdessen ist von "Radikalismus jeglicher Couleur" die Rede. "Couleur", im Ernst? Es geht hier doch nicht um beliebige Farbspiele. Es geht um einen Terrorakt eines radikalisierten Muslims. Natürlich will ich den Zentralrat der Muslime nicht für den Terroranschlag verantwortlich machen. Aber wenn der Täter ein Christ gewesen wäre und aus (verirrt-)christlicher Überzeugung gehandelt hätte, würde ich mir schon die Frage stellen, ob das nicht irgendetwas mit mir zu tun haben könnte.

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Klare Distanzierung ist das eine, notwendig ist aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Gewaltpotentialen der eigenen Religion. Letzteres fehlt mir hier. Von meinem muslimischen Nachbarn würde ich es nicht unbedingt erwarten, vom "Zentralrat der Muslime in Deutschland" aber sehr wohl.

Während ich dies schreibe, denke ich an ein Podcast-Gespräch zurück, das ich vor meiner Sommerpause mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, einem überaus ruhigen und differenzierten Wissenschaftler, geführt habe. Es ging um sein Buch "Israel: Hamas – Gaza – Palästina". Mir war aufgefallen, dass er den Begriff "Islamismus" vermeidet und stattdessen von "radikalem" oder "fundamentalistischen Islam" spricht. Ich fragte ihn nach seinen Gründen. Das Wort "Islamismus", so Kraushaar, sei erst spät in den allgemeinen Gebrauch gekommen. Entscheidend sei dafür der Terroranschlag vom 11. September 2001 in den USA gewesen. Mit diesem neuen Wort habe man gemeint, "den Islam" eindeutig von "dem fundamentalistischen Islamismus" abgrenzen zu können, so als habe das eine gar nichts mit dem anderen zu tun: Die Täter seien einfach Terroristen, die sich illegitimer Weise des Islams bedienten, aber keine richtigen Muslime – so, als gäbe es keine Übergänge, Verwandtschaften, Beziehungen, Verstrickungen. Das aber würde dem Wort einen apologetischen Sinn verleihen, der eine vertiefte Auseinandersetzung – auch von Muslimen – mit den spezifischen Gewaltpotentialen des Islam verhindern würde (siehe das Statement des Zentralrats der Muslime).

Diese Begriffskritik hat mir eingeleuchtet. Zudem war mir aufgefallen, dass es keine Entsprechungen für das Judentum oder das Christentum gibt. Wenn "radikale jüdische" Siedler Terror verbreiten, werden sie nicht "Judisten" oder ähnliches genannt. Wenn "christliche Nationalisten" Verbrechen begehen, spricht man nicht von "Christisten". Warum sollte man für "Islamisten", die sich doch höchstwahrscheinlich selbst als "Muslime" bezeichnen, eine Ausnahme machen?

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur