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Nach Hartenstein kommt man bequem mit dem Zug von Aue oder mit dem Bus von Zwickau. Steigt man in der Ortsmitte aus, steht man sogleich vor dem Denkmal des berühmtesten Sohnes des Städtchen: Paul Fleming. Wie bitte, der Name sagt Ihnen nichts? Ich kläre gern auf. Paul Fleming war – beflügelt von Martin Opitz – der erste bedeutende hochdeutsche Dichter (die Deutschen waren im Vergleich zu den Italienern spät dran). Geboren wurde er 1609 im Lehrer-Haus von Hartenstein, das man nach wenigen Schritten erreicht, wenn man vom Markt durch eine enge Straße zur Kirche geht. Einem engagierten Verein ist es gemeinsam mit der Stadt gelungen, das Haus zu sanieren und offen zu halten. Eine klug komponierte Ausstellung erzählt Flemings wundersame Geschichte.
Wer liest heute noch Klassiker? Erschreckend wenig bleibt von den Werken selbst der Größten im Gedächtnis. Fleming hatte das Glück, dass eins seiner Gedichte vertont wurde und heute noch im Evangelischen Gesangbuch zu finden ist. Es ist einer der schönsten, tiefsten und abgründigsten Vertrauenschoräle (Johann Sebastian Bach konnte gar nicht anders, als ihm eine Kantate zu widmen):
In allen meinen Taten
lass ich den Höchsten raten,
der alles kann und hat;
er muss zu allen Dingen,
solls anders wohl gelingen,
mir selber geben Rat und Tat.
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Fleming war ein Kind des alten Protestantismus. Sein Vater begann als Lehrer in Hartenstein und macht dann eine beeindruckende kirchliche Karriere. Lutherische Frömmigkeit war ihm also in die Wiege gelegt, in der Schule wurde sie dann um humanistische Bildung erweitert (in der Leipziger Thomas-Schule war übrigens der Komponist Johann Hermann Schein einer seiner Lehrer). Für die kirchengeschichtlich Interessierten: Der frühe Protestantismus war auch eine Bildungsbewegung, innig verbunden mit den Künsten und Kenntnissen der Antike, der Renaissance, des Humanismus.
Fleming ist dafür eines der besten Beispiel (gleich nach Melanchthon). Das macht seine Poesie für heutige Leser allerdings zunächst sperrig: Sie ist regelgeleitet, gelehrt, rhetorisch, voller Bezüge zur antiken Literatur, bei denen wir ein Lexikon konsultieren müssen. Wer jedoch genauer hinschaut, findet immer ein persönliches Leben – vor allem in den geistlichen Versen, in denen sich evangelisches Gottvertrauen mit stoischer Ergebung mischt. So in meiner Lieblingsstrophe von "In allen meinen Taten", die leider nicht mehr im Evangelischen Gesangbuch steht:
Hat er es denn beschlossen,
so will ich unverdrossen,
an mein Verhängnis gehen;
kein Unfall unter allen
wird mir zu harte fallen,
ich will ihn überstehen.
Kurz und abenteuerlich war Flemings Leben. Mit einer Delegation aus Schleswig-Holstein unternahm er von 1633 bis 1639 eine Reise durch Russland bis nach Persien. Man wollte eine Alternative zu den Seerouten nach Asien finden. Wäre das gelungen, wäre Schleswig-Holstein zum Global Player geworden (hätte dann aber heute postkoloniale Debatten am Hals). Mit nur 30 Jahren ist Fleming 1640 bei der Durchreise in Hamburg an einer Lungenentzündung gestorben. Begraben wurde er in der Hauptkirche St. Katharinen. Einmal im Jahr predige ich dort, jedes Mal gehe ich vor dem Gottesdienst zu der Gedenktafel für ihn hinter dem Altar.
Zum Glück war Flemings Poesie nicht nur fromm, tugendhaft, gelehrt und formal korrekt. Von ihm stammt eines der schönsten und klügsten Gedichte über das Küssen, das auch heute nichts an Gültigkeit verloren hat. Denn es feiert die Freude der Liebe so, dass der eigene Genuss nie auf Kosten der Rücksicht auf die Geliebte geht. Die Liebe ist ein Spiel, das dann am meisten Glück beschert, wenn ein gewisses Maß gewahrt wird. (So ist es ebenfalls bei der Poesie, beim Glauben aber auch). Das Gedicht trägt den Titel "Wie er wolle geküsset sein":
Nirgends hin / als auff den Mund /
da sinckts in deß Hertzen grund.
Nicht zu frey / nicht zu gezwungen /
nicht mit gar zu fauler Zungen.
Nicht zu wenig / nicht zu viel
Beydes wird sonst Kinder-spiel.
Nicht zu laut / und nicht zu leise /
Beyder Maß‘ ist rechte weise.
Nicht zu nahe / nicht zu weit.
Diß macht Kummer / jenes Leid.
Nicht zu trucken / nicht zu feuchte /
wie Adonis Venus reichte.
Nicht zu harte / nicht zu weich.
Bald zugleich / bald nicht zugleich.
Nicht zu langsam / nicht zu schnelle.
Nicht ohn Unterschied der Stelle.
Halb gebissen / halb gehaucht.
Halb die Lippen eingetaucht.
Nicht ohn Unterschied der Zeiten.
Mehr alleine / denn bey Leuten.
Küsse nun ein Iedermann
Wie er weiß / will / soll und kan.
Ich nur / und die Liebste wissen /
Wie wir uns recht sollen küssen.
Paul Fleming
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Ich kenne das Gedicht von Paul Fleming“Nirgendshin
als auf den Mund“
Ich habe es vor unzähligen Jahren, so vielleicht 1958
im Chor gesungen. Damals in der Heider Kantorei in
Heide/ Holstein, wo ich aufgewachsen bin. Jetzt bin ich
85 Jahre und kann das Lied immer noch fast auswendig singen! Und auch das Kirchenlied „ in allen meinen Taten“ haben wir gesungen. Eine schöne Zeit!