Lina Beckmann als Agaue
Lina Beckmann als Agaue in der fünfteiligen Antiken-Serie "Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Monika Rittershaus, 2023
Hamburger Theater-Marathon
Anthropolis
Fünf Mal an einem Wochenende ins Theater zu gehen, ist eine überwältigende Erfahrung. Und verstörend. Mit vielen offenen Fragen lässt sie einen zurück
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
31.05.2024
3Min

Schließlich hatten wir es endlich geschafft, auch am Hamburger Theater-Marathon teilzunehmen. Am vergangenen Wochenende stand wieder der Zyklus der Theben-Sagen auf dem Programm des Schauspielhauses. Freitagabend, Samstagnachmittag, Samstagabend, Sonntagnachmittag, Sonntagabend – die Geschichten von Europa, Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste, Antigone.

Zuerst war ich überwältigt von der Wucht und schieren Widersinnigkeit dieser Mythen. Europa wird von Zeus, in Gestalt eines weißen Stiers, auf Nimmerwiedersehen geraubt (ursprünglich bezeichnete Europa eben kein politisches Zukunftsprojekt, sondern war der Name einer verführten und verschleppten Frau). Semele verbrennt, als sie das Angesicht ihres Geliebten, des ewiggeilen Zeus, ansieht. Dann holt er den gemeinsamen, noch ungeborenen Sohn Dionysos aus ihrem Leib und trägt ihn in seinem Oberschenkel aus. Vorher wurde ein Drache erschlagen, die Zähne wurden ihm ausgebrochen und ausgesät, Männer wuchsen daraus hervor, töteten einander, die Überlebenden bauten die Stadt Theben. Doch das ist nicht der Beginn einer Fortschrittsgeschichte. Denn Zivilisation heißt Krieg, wieder und wieder wird die Stadt zum Schlachthaus. So treibt Dionysos die Frauen Thebens in einen Rausch, damit sie den ersten König zerfleischen, weil dieser ihm die rechte Verehrung versagt hatte. Das ist erst der Anfang.

Als Theologe dachte ich zwischenzeitlich leise schmunzelnd an all die Gespräche, in denen geschätzte Mitmenschen mir die Gewalttätigkeit der Bibel vorwarfen. Da hatten einige sich offenkundig länger nicht mit griechischen Mythen befasst. Oder sie tragen in sich ein harmonistisches Bild menschlicher Zivilisation. Wie sehr Gewalt, Rausch und Wahnsinn nicht nur deren Anfang prägen, sondern durchgehend ihr Wesen ausmachen, kann man hier lernen.

Zugleich ertappte ich mich dabei, wie ich andauernd versuchte, dem Geschehen irgendeinen Sinn abzugewinnen. Das ist wohl eine Berufskrankheit, dass man als Theologe in allen alten Mythen eine Botschaft fürs eigene Heute finden will. Doch das ist hier aussichtslos. Diese Ursprungsgeschichten stehen für nichts anderes als die grauenhafte Sinnwidrigkeit des Lebens. Gerade darin aber zogen sie das Publikum in ihren Bann. Vielleicht, so dachte ich dann, sollte ich bei nächster Gelegenheit eine biblische Geschichte ebenfalls einmal als nacktes Paradox vorstellen. Nun bin ich offensichtlich keine Lina Beckmann (Foto) und kein Devid Striesow. Aber es könnte doch sein, dass meine Gemeinde anders zuhören würde.

Dann aber rückten die beiden Sonntagsaufführungen näher an die Gegenwart heran. Als die Söhne des Ödipus, Eteokles und Polyneikes, lieber ihre Heimatstadt der Vernichtung preisgeben, als dem jeweils anderen, verhassten Bruder nachzugeben, dachte ich unwillkürlich an die Kriegsherde der Gegenwart – und auch an unsere Söhne, die, lebten sie nicht im sicheren Westeuropa, vom Tod bedroht wären.

Zum Schluss Antigone: Sie beerdigt ihren Bruder Polyneikes, den Vaterlandsverräter, obwohl der neue König Kreon, ihr Onkel, dies verboten hatte. Sie stellt ihre Pietät und ihr Gewissen also über staatliches Recht und politische Ordnung. Das ist so menschlich wie sinn- und maßlos. Da ging mir mancher Streit der Gegenwart um Recht und Moral, Mitleid und Struktur durch den Sinn. Als schließlich von der Bühne her die Bürger Thebens angerufen wurden, fühlte ich mich als Hamburger mitangesprochen, so wie viele im Publikum.

Dieser Theater-Marathon war ein Genuss, eine Überwältigung, eine Anstrengung, aber auch ein Hoffnungszeichen. Denn er beweist, dass die großen alten Geschichten immer noch die Kraft besitzen, uns zu berühren, zu verstören und in die Reflexion zu zwingen. Wir sollten uns ihrer nicht schämen.

P.S.: "Maler der Unendlichkeit – Caspar David Friedrich und die Religion" – darüber diskutiere ich mit Mechthild Baus vom MDR in einem halbstündigen Radio-Gespräch.

Kolumne