Müssen Schüchterne wirklich immer im Schatten stehen?
15.11.2010

In Talkshows benehmen sich die geladenen Gäste mal mehr, mal weniger gesittet, je nach eigenem Stil und der Fähigkeit von Moderatoren, selbstverliebte Vielredner auszubremsen. Gelingt das nicht, fallen sich eigentlich zivilisierte Menschen dauernd ins Wort ­ genau wie in manchen Familien oder unter Freunden. Und immer wieder lässt sich jemand in einer solchen Redeschlacht verbal abwürgen, versinkt resigniert in Schweigen. Als Beobachter ist man hin- und hergerissen. Soll man Mitleid mit diesem armen Menschen haben, der hilflos dem Treiben zusieht? Oder soll man sich über ihn ärgern, weil er oder sie so ohnmächtig dahockt und sich von anderen mit Worten und Gesten über den Haufen rennen lässt?

Aber wer sich dauernd viel zu gering einschätzt, der widerspricht genau genommen seinem Schöpfer.

Wer schüchtern ist und das ändern möchte, der kann sich nach den Gründen für sein Verhalten fragen: Habe ich Angst, dass sich andere nicht für mich interessieren oder dass ich sie nicht von meinen Argumenten überzeugen kann? Komme ich mir unbedeutender als andere vor, gar wertlos? Der Kirchenvater Augustin hat einmal als Beginn der Sünde bezeichnet, sich mit anderen zu vergleichen. Das leuchtet ein, wenn man an überhebliche Zeitgenossen denkt, an Herrenmenschen, die schnell dabei sind, mit Worten oder Taten zu vernichten. Aber kann es auch umgekehrt eine Sünde sein, sich geringer einzuschätzen als andere? Es ist doch gut für das Miteinander, wenn jemand sich nicht ständig in den Vordergrund spielt. Das stimmt. Aber wer sich dauernd viel zu gering einschätzt, der widerspricht genau genommen seinem Schöpfer.

In der Bibel wird erzählt, dass Gott sich alle Mühe gegeben hat, den Menschen "wenig niedriger als Gott" zu kreieren, damit er sich täglich daran freuen kann, "wunderbar gemacht" zu sein. Natürlich sagt sich das leicht, wenn man gesundes Selbstbewusstsein besitzt. Schwer ist es zu glauben, wenn man erst eine misslungene Kindheitsgeschichte aufarbeiten muss, bevor man vergnügt mit sich selbst sein kann. Aber es lohnt sich, danach zu fahnden, warum man sich nicht mal ins Rampenlicht traut. Ein Spiel kann als "erste Hilfe" dienen: Jeder schreibt auf Zettel, welche Schwächen er zu haben meint. Die Zettel werden verteilt. Andere notieren, ohne zu wissen, von wem der Zettel ist, auf seiner Rückseite, welche Stärke ihrer Meinung nach in dieser Schwäche steckt. Das Ganze wird dann vorgelesen. Eine, die meint, zu "zaghaft" zu sein, könnte dadurch etwa erfahren, dass als angenehme Kehrseite dieser Eigenschaft "Bescheidenheit" empfunden wird.

Auf keinen Fall darf man sich zu Wärtern von schüchternen Menschen aufschwingen.

Auf keinen Fall darf man sich zu Wärtern von schüchternen Menschen aufschwingen. Dadurch entmündigt man sie, statt ihnen Mut zu machen, für sich selber einzutreten. Natürlich kann jemand, der selbstsicher ist, sich auch mal kurz fassen und nachfragen, was das Gegenüber meint. Echtes Interesse, ausgedrückt in dem Satz: "Moment mal, ich würde gerne hören, was du dazu sagst", kann Schwätzer zum Schweigen und leise Menschen zum Reden ermutigen. Aber grundsätzlich muss ein schüchterner Mensch an sich arbeiten, wenn er oder sie mehr "vorkommen" möchte. Das fängt damit an, dass man sich vorstellt, was schlimmstenfalls passiert, wenn man den Mund aufmacht. Man könnte zum Beispiel rot werden, den Satz am Ende nicht so hinkriegen, wie man ihn angefangen hat oder den Faden verlieren. Na und? Auch andere verhaspeln sich ­ und selbst wenn nicht: Möglicherweise ist ja gerade die eigene sensible, vorsichtige Art, etwas darzustellen, für die Diskussion notwendig und entscheidend.

Sorgfältige Beobachtungen und behutsame Worte ergänzen das sinnvoll, was andere spontan und selbstsicher vortragen ­ und was sie dabei, in ihrer Leidenschaftlichkeit, schon mal übersehen. Es ist für alle ein Gewinn, wenn schüchterne Menschen versuchen, aus sich herauszugehen und andere an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben zu lassen. Wer schüchtern ist und das nicht bleiben will, kann sich austauschen mit Bekannten, denen es ähnlich geht. Dann heißt es ausprobieren, am besten im vertrauten Kreis: Einfach mal mit der eigenen Meinung hineingrätschen in die Debatte und schauen, was passiert. Luft holen, nachsetzen, sich beschweren, wenn andere einem nicht genügend Raum lassen. Hartnäckig bleiben, die köstliche Seite der Sturheit erproben. Verlaufen solche Experimente nach einiger Zeit erfolgreich, sollte man den Radius erweitern.

Man kann sich vornehmen, bei einer Einladung oder einer Konferenz erst mal einen einzigen Wortbeitrag zu platzieren. Hat man das geschafft, sollte man stolz auf sich sein. Auf zum nächsten Experiment! Es ist schon klar: Unterschiede werden bleiben ­ die eine ist nun mal eine witzige Partylöwin und der andere ein feinsinniger Zuhörer. Aber ein faszinierendes Charisma, wörtlich: gottgegebene Gnadengaben, haben nicht allein die eloquenten Stars. Schüchterne Menschen sollten ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern anderen etwas von seinem sanften Glanz gönnen. Wenn die das nicht zu genießen verstehen, kann man sie immer noch auf sich selber sitzen lassen.

 

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