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Die Welt war seine. Man zählte sich zu seinen Geschöpfen. Gott zeigte sich nie, daran hatte man sich gewöhnt. Seine Abwesenheit bestimmte das Bild, das von ihm entstanden war, daran gab es nichts zu zweifeln. Im Gegenteil, die Vorstellung von seinem Dabeisein aus der Ferne trug dazu bei, ihn zu vergessen.
"Der Du bist im Himmel" (Matthäus 6), bei dieser Adresse wusste man ihn zu Hause, dem grandiosen Firmament, das in sternenklaren Nächten als Ausdruck seiner Herrlichkeit zu bestaunen war. Gott war die Ausnahme und dabei der gemeinsame Nenner der Welt, die zum Greifen nah war. Dass seine Gegenwärtigkeit gleich in drei Seinsweisen wirksam sei, dies zu verstehen, hatte man aufgegeben. Jesus saß zur Rechten des Vaters, das genügte.
Tilman Allert
An Weihnachten gab es Geschenke, weil sein Geburtstag gefeiert wurde, und an Karfreitag sang man traurige Lieder, um seines Todes zu gedenken. Im Gottesdienst brachte ihn sein Stellvertreter in Erinnerung. Es gab Momente, zu denen man seinen Beistand herbeisehnte – Fieber, das nicht zurückgehen wollte, die lange Krankheit des besten Freundes, der Streit der Eltern, eine Gemeinheit unter den Geschwistern – in der Hierarchie der Tröstungen war ihm der erste Platz dennoch nicht vergönnt. Gegenüber der wärmenden Umarmung, der Hand, die geborgen hielt, hatte das göttliche Vermögen keine Chance. Weit entfernt lag der Gedanke, irdischer Trost sei womöglich von himmlischer Güte durchströmt.
Gegen das Böse, das abzuwenden war, oder böse Gedanken, die man auszudenken wagte, und für das Gute, das man zu wünschen nicht aufhörte, gab es die Zehn Gebote. Vater und Mutter zu ehren, kam in der Reihenfolge nach dem ersten, das seinem Namen galt. Alle zu kennen und zu befolgen, gehörte zu den Bekundungen im Rahmen des Bündnisses, auf das man sich eingelassen hatte. Die Frage, wer man sei, woher man komme und wohin es mit dem eigenen Leben gehe, erübrigte sich. Im Himmel war Anfang und Ende. "Mir wird nichts mangeln" (Psalm 23), unausgesprochen prägte diese Gewissheit das Gefühl einer beruhigenden Kontinuität, wie finster die Täler, die man zu durchschreiten hatte, auch waren.
Für Grundsätzliches, der Gedanke etwa, Gefäß Gottes oder sein Werkzeug zu sein, blieb keine Zeit. Dass das eigene Tun und Lassen seinem Beispiel folgte, Unvertrautes in Vertrautes zu verwandeln und insofern schöpferisch zu sein, darin lag der Gipfel seiner verborgenen Anwesenheit im Leben. Traf nicht beides zu, ohne dass man davon etwas bemerkte, im Erkunden sein Werkzeug und im Aufnehmen sein Gefäß? Das Gottvertrauen, das unerschütterlich Naive, das das Bitten so kraftvoll macht, half, ein fragiles Gebilde entstehen zu lassen, das wir Überzeugung nennen, Ausdruck des Selbstvertrauens, der Sorge um sich. (. . .)
Das Beten, das gestisch den Dank und die Bitte ins Gespräch aufnimmt, folgte dem Bild, das von Gott im inneren Erleben gegenwärtig war. Die Hände, die sich, wenn sie sich wie Fremde begegneten, wie nach einer langen Abwesenheit überrascht, versammelten sich zu einer Zwecklosigkeit, zu einem höheren Zweck. Unter dem Zelt, das sie andächtig formten, öffnete sich ein unendlicher gedanklicher Raum, ungeduldig vom Kommenden bedrängt.
Sein Geheimnis lag in der Zäsur, eine Gelegenheit abzuschweifen, oder ein Innehalten, das über sich hinauswies. Dessen Sinn, die Anbetung, entnahm man praktisch, von seiner Handlungswirkung her, eine Fermate im Gang der Verrichtungen. Über die gesprochene Schwelle des "Amen" führte der Weg zurück in den gewohnten Rhythmus des Tages. Dabei enthielt das Wort den ewigen Wunsch einer Menschheit, die im Bewusstsein eigener Unvollkommenheit nicht aufgibt, der Utopie eines gelingenden Lebens zu folgen.
So schließt sich der Kreis zum Anfang des Buches. In Mythen und Märchen bewegen sich die Menschen, wenn sie meinen, die Welt in sich aufgenommen zu haben. Aus den Zeiten der Kindheit ist vom Beten erhalten dessen tröstende Botschaft, der schwebende Engel, die Erfahrung, dass wir Bittende sind und dass das "So sei es" jedes Wünschen besiegelt. Eines Tages wird es helfen.
"Der Du bist im Himmel" (Matthäus 6); "Mir wird nichts mangeln" (Psalm 23)