- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit
werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben
im Hause des HERRN immerdar.
Schon als Kind bewunderte ich, wie mein Großvater, mühelos und farbenfroh, zahlreiche Klassiker zitieren konnte. Eine ganze Bibliothek lag abrufbereit in seinem Kopf. Das beschränkte sich nicht, wie bei mir, auf einige Fetzen aus dem "Faust". Sondern "Die Räuber", "Die Glocke" und die "Iphigenie auf Tauris" konnte er von vorne bis hinten fehlerfrei aufsagen. Und ich? Als Kind wurde ich im reformpädagogischen Schonwaschgang großgezogen, ich konnte gar nichts.
Gesine Weinmiller
Irgendwann, lange nach seinem Tod, habe ich in Erinnerung an meinen Großvater angefangen, Texte auswendig zu lernen. Ohne weiteren Grund und Anlass. Meine grauen Zellen waren auch schon einmal elastischer. Ich wunderte mich, wie lange es brauchte, ein paar Zeilen zu memorieren. Vielleicht stellte ich mich besonders unbeholfen an, aber offensichtlich ist meine Festplatte schon ziemlich voll mit Häusern. Da war nicht viel Platz für den Psalm, den ich mir als erste Übungsstrecke aussuchte. Nach vielen Wiederholungen hat Psalm 23 seinen Ort in meinem Kopf gefunden und ist geblieben.
Warum ich ihn gelernt habe, wusste ich damals nicht. Klar, der Psalm ist eine alte Kamelle, jeder kennt ihn. Aber zu der Zeit war ich auch befremdet: Welche emanzipierte Frau identifiziert sich mit einem Schaf, von dessen Hirten es heißt: Du bereitest vor mir einen Tisch, und: Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein?
Im MRT hilft nur geistige Nahrung
Jahre danach kam die Nachricht, ich könnte sehr krank sein. In langen Krankenhausfluren und ebenso langen Untersuchungen machten Tausende Gedanken in meinem Kopf, was sie wollten. Ich war gefangen und kaum fähig, die einfachsten Zusammenhänge zu Ende zu denken. Was passiert mit den Kindern, wenn ich nicht mehr bin? Werde ich noch Enkel erleben? Wie geht Sterben? Die Untersuchungen waren unangenehm, einsame Stunden in tosenden Röhren. Radioaktiv verseucht lag ich wie ein Hendl unterm Grill.
Dem modernen Menschen steht die Zerstreuung nicht in allen Lebenslagen zur Verfügung. Für Bücher hatte ich keine Hand frei, und Netflix gibt es noch nicht in einem MRT. Nur die geistige Nahrung, die ich in mir hatte, konnte mir jetzt helfen. Deshalb schlug jetzt die Stunde des 23. Psalms. Obwohl ich ihn schon vor einigen Jahre gelernt hatte, war er noch taufrisch.
Mir erging es etwas wie dem Protagonisten in dem wundervollen Comic "Geisel" von Guy Delisle, der in irgendeinem Bürgerkriegsgebiet, 111 Tage an eine Heizung gekettet, gefangen gehalten wird. In seiner Verzweiflung zeichnet er, um nicht wahnsinnig zu werden, lauter Schlachtordnungen diverser Kriege in seiner Vorstellung nach. Es hilft, für solch einen Moment gerüstet zu sein. Ich hoffe es für niemanden, aber vermutlich kommt jeder Mensch früher oder später an so einen Punkt, wo nur zählt, was man mal gelernt hat.
Ich war getröstet
Ich hatte also meinen Psalm. Immer und immer wieder habe ich ihn mir vorgesagt. Manchmal rhythmisiert von den metallenen Schlägen des MRT. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fühlte ich mich in dieser unwirklichen Umgebung unter der virenresistenten, desinfizierbaren Oberfläche aus Chrom, PVC in trostlosen Farben und kaltem Licht.
Völlig unerwartet sprach Gott mit den Psalmversen in diese Situation. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser und dein Stecken und Stab trösten mich und du bereitest vor mir einen Tisch – all das erschien in diesem Setting plötzlich sinnvoll. Auch sträubte ich mich nicht mehr, mich mit einem Schaf zu vergleichen. Das Salböl tropfte von meiner Stirn und ich war getröstet. Jahrtausendealte Worte entfalteten eine Kraft, die ich zuvor beim Lernen weder vermutet noch empfunden hatte.
Mittlerweile ist die Krankheit überwunden, Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang. Ich habe mir fest vorgenommen, weitere Psalmen für schwere Stunden anzulegen. Mein Großvater jedenfalls hatte da keinen Mangel.
Psalm 23
Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit
werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben
im Hause des HERRN immerdar.
Die Bibliothek im Kopf
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Ein wunderbarer Text, sowohl der Psalm als auch Ihrer. Genau so fühlt es sich an. Ich kann jede Zeile nachvollziehen und bin im Leben mehr als einmal froh und getröstet gewesen mit der Hilfe dieses Psalms - und mit Gottes Hilfe.
Danke herzlich!
Sandra T.