Silke Fedder, 62:
"Sie sind ja mutig", hat meine Chefin zu mir gesagt, als ich Anfang des letzten Jahres kündigte. In ihrem Gesicht stand die Frage: Warum schmeißt eine Frau in dem Alter ihren sicheren Behördenjob hin? Mehrere Jahre hatte ich in einem Hamburger Bezirksamt als Sachbearbeiterin gearbeitet und das Gefühl, schon eine Ewigkeit dort zu sitzen. Wochenmärkte, Standgebühren, An- und Abmeldungen der Markthändler – damit hatte ich zu tun, Gebührenbescheide und Anträge. Ich sah kaum Menschen und fand meine Tätigkeit zunehmend eintönig. Ich fasste den Entschluss, zu kündigen – es reichte! Ich wollte nicht bis 66 dort sitzen und Tabellen ausfüllen.
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Ich wusste zwar noch nicht, was ich danach machen würde, war aber optimistisch, etwas zu finden. Ich bin recht flexibel, habe früher eine Zeit lang als Ökotrophologin und in der Betreuung von Senioren gearbeitet, ihnen im Haushalt geholfen. Klar, das wäre eine Option gewesen, aber ich hatte Lust auf Neues.
Ich hatte dann großes Glück. Ein Veranstalter, der Reisen für Menschen mit Behinderung organisiert, fragte mich, ob ich für ihn arbeiten möchte, ein 30-Stunden-Job. Ich kannte das Unternehmen, weil ich dort früher ehrenamtlich Touren begleitet hatte, ich hatte in einem Fernsehbeitrag davon erfahren. Die Reisen haben mir immer viel Spaß gemacht, und so sagte ich ohne Zögern zu. Ich bin geschieden und Single, muss mich also bei keinem rechtfertigen, wenn ich für meinen Job unterwegs bin. Normalerweise begleite ich eine längere Reise im Monat.
Zu uns kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen und Einschränkungen: Menschen mit einer geistigen Behinderung, Blinde, Autisten, Menschen mit einer Lernbehinderung, mit MS, einer beginnenden Demenz oder auch Leute, die einen Schlaganfall überlebt haben. Einige sind im Rentenalter, wir haben aber auch mal Jüngere dabei.
Der Schlüssel ist eins zu zwei: Eine Betreuungskraft ist für zwei Leute zuständig, pro Reise sind es vier bis zwölf Gäste, selten fahren auch mal Angehörige mit. Vor unserem ersten Einsatz haben wir vom Veranstalter eine ausführliche Schulung bekommen, unter anderem über die verschiedenen Einschränkungen der Gäste. Meist sind wir in Deutschland unterwegs, aber auch mal im Ausland, zum Beispiel in Lissabon oder auf Kreta.
Gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung sind häufig sehr offen und direkt, sagen, was sie mögen und was nicht. Da schimpft mich schon mal jemand an: "Ich mag dich nicht mehr!", wenn ich ihn einen Moment warten lassen muss. An eine stressige Situation kann ich mich besonders gut erinnern: Eine Frau, die im Rollstuhl saß, bekam einen Wutanfall. Sie war der Meinung, dass eine andere Teilnehmerin zu nahe an sie herangekommen war, so dass sie nicht weiterfahren konnte. Sie fing sogar an, mit Sachen zu werfen. Ich konnte die Frau aber schnell beruhigen. Solche Situationen sind für alle anstrengend. An manchen Tagen falle ich abends todmüde ins Bett.
Auch wenn es gelegentlich Stress gibt, mache ich meine Arbeit sehr gern. Geistig behinderte Menschen sind meist sehr körperlich. Ich kann mich vor Liebesbekundungen gar nicht retten, bekomme so viele Küsschen und Umarmungen, das rührt mich jedes Mal. Manchmal gibt es auch Rivalitäten, wenn gleich mehrere Leute neben mir sitzen wollen, die sich dann gegenseitig um einen Stuhl beharken. In der Regel sind unsere Gäste aber friedlich und freuen sich, dass wir uns um sie kümmern und sie reisen können. Manche erzählen gern Witze, wir lachen viel zusammen.
Ich bekomme so viele Umarmungen
Schön finde ich auch, dass wir in den Hotels, in denen wir unterkommen, positiv aufgenommen werden. Einmal waren wir auf dem Peloponnes, der Besitzer unseres Hotels war überschwänglich gastfreundlich und hat uns sogar zu einer Tour auf seinem Motorboot und anschließend zum Essen eingeladen. Das war für uns alle ein Highlight.
Ich bin sehr glücklich, dass ich jetzt so viel mit anderen Menschen zusammen bin – anders als in der Behörde. Unsere Gäste fordern viel Zuwendung, wollen, dass man immer wieder fragt, ob sie etwas brauchen, und das tun wir auch. Seit ich diesen Job mache, muss ich mir nicht mehr die Frage stellen, welchen Sinn meine Arbeit hat.
Protokoll: Franziska Wolffheim
Sehr geehrte Frau Fedder,…
Sehr geehrte Frau Fedder,
wir sind uns nie persönlich begegnet, und dennoch fühlte ich mich in den letzten Tagen irgendwie gedrängt, Ihnen einmal zu schreiben. Beim Lesen der aktuellen „Zeit“ habe ich unlängst zum ersten Mal von Ihnen erfahren und großen Respekt vor Ihrer Vita bekommen.
Seither habe ich mir immer wieder einmal die Frage gestellt, was Sie wohl dem christlichen Glauben abgewinnen können und ob Sie eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus haben. Nach meiner Überzeugung ist der persönliche Glaube an Jesus Christus und seinen stellvertretenden Opfertod am Kreuz und ein Eingeständnis und Bekenntnis der eigenen Schuld heilsnotwendig und Voraussetzung dafür, die Ewigkeit bei Ihm zu verbringen.
Mein Gebet ist es, dass Gott Ihnen und allen in Ihrer Familie noch diesen rettenden Glauben schenken möge und wir uns einmal im Himmel wiedersehen.
Mit den Zeilen von Spitta, die mir vor einiger Zeit einmal begegnet waren und die mich sehr berührt hatten, wünsche ich Ihnen Gottes Segen.
Mit freundlichen Grüßen
Marcel Haldenwang
Weinet nicht über mich!
Weint nicht über Jesu Schmerzen, / Weint nicht über Jesu Tod; / Weint erst über eurer Herzen / Unempfund'ne Sündennot. / Denn in Ihm ist nicht erfunden / Eine Sünde, ein Betrug, / Nur für euch trägt Er die Wunden, / Trägt nur eurer Sünde Fluch.
Könnt ihr keine Sünde finden, / Keine, an des Menschen Sohn, / Ist der Tod allein der Sünden / Strafe und gerechter Lohn: / O, dann muss Er Strafe dulden, / Die Er selber nicht verdient, / O, dann sind es fremde Schulden, / Die Er mit dem Tode sühnt!
Ach, was hilft's, mit Weinen, Trauern / Unter seinem Kreuz zu steh'n; / Ach, was hilft's, den Todesschauern, / Die Er fühlte, nachzugeh'n; / Ach, was hilft's, das Los beklagen, / Das der Heil'ge sich erwarb - / Ohne sich einmal zu fragen: / Warum und für wen Er starb?
Und für wen hat Er gestritten / Diesen Kampf, dem keiner gleich? / Und für wen den Tod gelitten? / Für die Brüder nur, für euch! / Und nun sehet an den Reinen, / Wie Er leidet in Geduld; / Und nun habt ihr Grund zu weinen, / Aber über eure Schuld.
Wenn ihr dann aus tiefstem Herzen / Eure Schuld erkennt, gesteht, / Wenn ihr in des Heilands Schmerzen / Eurer Sünde Strafe seht, / Wenn ihr weint um eure Sünden: / O, dann wird, der still und mild / Fremde Schuld trägt, euch verkünden, / Was die bittre Träne stillt.
Karl Johann Philipp Spitta
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Artikel "Mut zum neuen Job"
Sehr geehrte Redaktion, ganz zufällig wurde ich vin einer Verwandten auf diesen Artikel aufmerksam gemacht und dachte sofort: Das ist mein Traumjob! Leider steht in dem Artikel nichts über die Agentur bei der Frau Fedder angestellt ist. Ich habe im Internet nach Jobs "Reisebegleitung für Behinderte" gesucht, finde aber nur Agenturen, die Reisen anbieten, keine Stellenangebote. Auch in den Jobbörsen keine brauchbaren Angebote. Können Sie mir weitere Informationen zukommen lassen? Herzlichen Dank, Anna Lafrenz
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Kontakt zu Frau Silke Fedder
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir den Kontakt zu Frau Fedder vermitteln würden. Ich würde gerne ihre Betreuung auf einer Reise annehmen.
Mit bestem Dank und Gruß,
Barbara Osterwald
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