Krieg in Israel
Hört erst mal zu!
Wir waren Virologen, Russlandexperten und Wärmeingenieure. Warum wir Deutschen jetzt nicht zu Nahostexperten werden, sondern einfach nur schweigend beobachten sollten, erklärt chrismon-Herausgeber und Schriftsteller Jakob Hein
Jakob Hein
Justine Lecouffe/Inky Illustration
Susanne Schleyer
13.12.2023
3Min

Es geht schon los mit der Bezeichnung. Wir nennen das kleine Stück Welt gern den "Nahen Osten", um uns um Länder- und Staatenbezeichnungen herumzudrücken. Alle Menschen, die dort leben, sind durch eine jahrtausendelange Geschichte ­miteinander verbunden, und diese Verbindungen reichen durch die ganze Welt, so dass die Nennung von Nationalitäten oft nicht besonders weiterhilft.

Dieses kleine Stück Welt ist wunderschön und ­voller Sehens­würdigkeiten von Weltrang. Hier finden sich wichtige Stätten aller abrahamitischen Religionen, jeder Quadrat­zentimeter strotzt vor geschichtlicher Bedeutung. Die Menschen sind in der Regel gastfreundlich, finden immer noch einen Platz, einen Teller und etwas Essen für ihre ­Besucher. Es könnte dies eine ­prosperierende Region sein, in der Gäste aus aller Welt in rund ums Jahr ausgebuchten Hotels wohnen, sich von den Orten aus Thora, Bibel und ­Koran überwältigen und bezaubern lassen, ein Ort der Religionen übergreifenden Freude.

Susanne Schleyer

Jakob Hein

Jakob Hein wurde 1971 geboren. Der Psychiater für Kinder und Erwachsene ist auch Schriftsteller und seit Mai 2023 zudem Mitherausgeber bei chrismon. Als angestellter Arzt war er der erste Väterbeauftragte an der Berliner Charité. Seit 2011 führt er seine eigene Praxis für Psychotherapie. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, im Frühjahr 2022 "Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken" (Galiani). Hein lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Berlin.

Wir wissen, dass dem nicht so ist. Dass es um jeden Quadratzentimeter erbitterten Streit und dass es unzählige Probleme nicht nur ­zwischen den einzelnen Gruppen, ­sondern immer auch innerhalb dieser Gruppen gibt. Diese Probleme haben unterschiedliche Schichten und Dimensionen, unter den aktuellen Schwierigkeiten liegen immer noch länger zurückliegende Schwierigkeiten, und das geht teilweise durch die Jahrtausende.

Kluge und klügste Menschen, mutige und noch mutigere Personen, Genies und Helden haben in den vergangenen Jahrzehnten schon über die Lösung dieser Probleme nachgedacht, geschrieben, gesprochen und verhandelt. Viele der klugen Menschen, die dort leben und ­denen die Lösung der Probleme nicht nur ein theoretisches Anliegen, sondern ­eine praktische Hilfe bei drängenden alltäglichen Herausforderungen wie dem Einkauf von Lebensmitteln oder einer Heimat für ihre Kinder wäre, haben darüber nachgedacht. Wenn du glaubst, dass du eine neue, noch nie da gewesene Idee zur Lösung des Nahostkonflikts ­hast, dann hast du dich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht gründlich genug informiert.

So schwer es auszuhalten ist, zuzusehen, wenn zwei Parteien miteinander in einem Konflikt stehen, so wichtig ist es, die eigenen Möglichkeiten, die eigene Rolle in diesem Konflikt realistisch zu beurteilen. Und uns Deutschen kommt dabei eine besondere Rolle zu, eine Rolle, die uns wenig liegt und die wir besonders schlecht beherrschen. Es ist die Rolle des schweigenden Beobachters. Dabei geht es nicht um Des­interesse, sondern um aktive, teilnahmsvolle Beobachtung, um Empathie und Verständnis. Es geht darum, im Bewusstsein um die Geschichte zu schweigen, keinesfalls Ratschläge zu verteilen, nicht die bessere Idee zu haben oder irgendetwas laut zu wissen. Es geht darum, da zu sein, wenn wir gebraucht werden, uns aber unter keinen Umständen aufzudrängen.

Erst waren wir Bundestrainer, dann Virologen, dann Russlandexperten, dann Wärme­ingenieure. Wir sollten jede Anstrengung unternehmen, nicht zu Nahostexperten zu werden. Denn es gibt schon mehr Nahost­experten, als es Staub in der Negevwüste gibt. Woran es mangelt, sind aktive Zuhörer und tatkräftige Unterstützerinnen, nicht wortgewaltige Besserwisser.

Aktives Zuhören bedeutet nicht, nur akustisch wahrzunehmen. Es bedeutet mitzudenken, mitzufühlen, weiter­zudenken. Im Gegensatz zum desinteressierten Weg­hören schließt das aktive Zuhören unbedingt ein, dass man ­Träume, Vorstellungen, Visionen von einem guten Ausgang hat. Ich freue mich über jede und jeden, der diese Rolle für sich finden kann.

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Sehr geehrter Herr Hein,
zuhören ist selten schlecht, insofern kann ich Ihnen folgen.
Ihre weiteren Ausführungen finde ich jedoch aufgeklärten Bürgern nicht angemessen und für jemanden, der viel Zeit zu überlegen hat, geradezu enttäuschend.

Die Konflikte um Israel sind tatsächlich wenig nachvollziehbar, wenn man religiösen Hass nicht in Betracht zieht. Gerade darauf läuft Ihre Empfehlung hinaus, sich kein Urteil anzumaßen. Dabei liegt diese Einsicht doch nahe und es mutet schon merkwürdig an, dass Sie sie nicht in Ihre Überlegungen einbeziehen. Dies mit Hinweis auf verallgemeinernde Bildzeitungsüberschriften (!) zu unterlassen, kann ich nur als unangenehme Bevormundung empfinden.
Es liegt doch nahe zu fragen: Woher der Hass? Und offensichtlich ist: Von der muslimischen Seite. Nächste Frage: Warum nicht - oder zumindest nicht annähernd so stark - von den Christlichen Religionen? Da kommt man doch der Sache näher! Weil letztere durch die europäische Aufklärung in ihrem archaischen Glauben an seine Unfehlbarkeit und Anspruch an die Realisierung auf Erden geschwächt wurden und ihn verändern mussten, hin zu Toleranz, Friedlichkeit, ein nicht wörtliches Verständnis der heiligen Bücher und die Einsicht in die Zeitbedingtheit von deren moralischen Forderungen. Von solch naheliegenden Überlegungen versuchen Sie, vielleicht nicht bewusst, die Leser abzuhalten und sie stattdessen in die mittelalterliche Position zurückzudrängen: "...Schwierigkeiten über Jahrtausende...wenn Du glaubst ... eine Idee zu haben, dann hast du dich... nicht gründlich genug informiert..." Anders gesagt: "Der Hirte Hein denkt für Dich, du..." Dabei vermeiden Sie lediglich eine klare Position gegen die muslimischen "Glaubensbrüder".
Statt sich mit den Aufklärern - religiöse wie säkulare - zu identifizieren sucht die EKD wie auch Sie den Schulterschluss mit anderen Religionen, auch wenn diese in ihren Hauptströmungen aggressiv, intolerant und mittelalterlich und grausam sind und Christen sogar verfolgen! Wen kann das überzeugen? Wie die Austritte zeigen, immer weniger Menschen.
Dabei liegt ein humanerer und überzeugenderer Weg vor Ihnen, da das Bedürfnis nach Spiritualität weiter besteht.
"Es ist Medizin, nicht Gift, das ich Dir reiche."
In diesem Sinne auf den Mut zum Nachdenken!

Mit freundlichen Grüßen

Helmut Lambert

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Sehr geehrter Herr Hein,

mit Interesse aber auch Erstaunen habe ich Ihren Beitrag „Hört erst mal zu“ in der chrismon 12/2023 gelesen.

Offen gestanden habe ich nicht verstanden, was Sie mit Ihren Ausführungen sagen wollen. Diese sind m.E. teilweise widersprüchlich.

Einerseits bemängeln Sie, dass „ … nicht zu Nahost-Experten zu werden“. Andererseits rufen Sie dazu auf: „Aktives Zuhören bedeutet nicht, nur akustisch wahrzunehmen. Es bedeutet vielmehr mitzudenken, mitzufühlen, weiterzudenken“.

Ich denke, dass man natürlich kein Experte in diesen schwierigen historischen und aktuellen sein wird. Aber man bildet sich zwangsläufig eine Meinung.

Ich weiß nicht, ob Sie jemals in Israel waren. Meine Frau und ich haben vor einigen Jahren eine Reise dorthin unternommen und wir waren auch in Bethlehem. Dort hat uns eine in Bonn aufgewachsenen Palästinenserin (und mit ihren Eltern wieder dorthin zurückgekehrt ist) anschaulich ihre Position, Lebensumstände usw. dargelegt. Hoch interessant, authentisch, nüchtern.
Man darf leider in Deutschland keinerlei Kritik an Israel äußern, weil man sofort als Antisemit gilt. Es gibt aber nicht nur schwarz/weiß.
Ich meine selbstverständlich nicht die aktuelle Katastrophe und das Recht auf Selbstverteidigung Israels.
Hier nur 1 Stichwort: UN-Resolution zu einer 2-Staaten-Lösung. Weitere könnte ich benennen.

Dabei gibt es doch viele Ansätze zu positiven Lösungen von beiden Seiten nach dem Motto: Wir alle schauen nach vorne - nicht zurück.
Bitte sehen Sie doch einfach mal in Ihre eigene Zeitschrift chrismon, Ausgabe 12/2021, Seite 52ff: Artikel „Ihr sollt nicht hassen“.

Mein Fazit: auch ohne „Experte“ zu sein (wer ist das schon, was qualifiziert jemanden dazu?), mache ich mir immer wieder Gedanken - pro Israel, aber auch kritische müssen erlaubt sein.

Ich hoffe, Herrn Hein, dass Sie diese Meinung interessiert hat.
Wenn Sie möchten, können wir dazu auch in den Dialog treten.

Mit freundlichen Grüßen

Rainer Hannich

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Sehr geehrter Herr Hein,

mehrfach habe ich Ihren Artikel zum Nahostkonflikt – besser Israeli- Palestinenserkonflikt – gelesen und versucht Sie zu verstehen.
Mir ist es nicht gelungen. Am Ende habe ich mich sogar ziemlich darüber geärgert, über die belehrende Art.

Warum nicht Nahost? Wir sagen doch auch Europa, Asien oder Afrika und meinen damit ganze Regionen.

Warum sollten wir Deutschen uns besonders zurückhalten? Wir haben doch einen Großteil der Probleme erst verursacht. Zunächst mit der Idee von Theodor Herzl und später mit dem Holocaust. Wir sollten uns besonders darum kümmern, wie es in Palästina weitergeht. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir uns bedingungslos auf die Seite Israels stellen, wie es den Anschein hat.

Israel wird von einem Mann geführt, der verzweifelt versucht, sich der Strafverfolgung um jeden Preis zu entziehen. Israel ist gerade dabei, sich um jeden Kredit zu bringen, den es in der arabischen Welt errungen hatte. Wie sich gerade zu zeigen scheint, haben Netanjahu und die ihn Umgebenden alle Warnungen der letzten Zeit ignoriert, die den Angriff der Hamas recht präzise vorausgesagt haben. Der Plan der Hamas geht wohl auf, Israel zu dem Rachefeldzug zu provozieren. Israel schlägt maßlos um sich. Es nimmt keinerlei Rücksicht auf die zivile Bevölkerung. Die Behauptung, mit Warnungen, Kampfpausen und Fluchtkorridoren könne man der Bevölkerung Chancen einräumen, sind verzweifelte Versuche, sich zu rechtfertigen.

Ich bin kein Experte und will es auch nicht sein. Mir fehlen die Mittel zum Handeln. Aber eins weiß ich genau: Furcht ist kein guter Ratgeber und Rache, wie in den Ansprachen Netanjahus beschworen, erst recht nicht. Ich kann nur hoffen, dass die Stellen, die die Aufgabe und auch die Möglichkeiten haben, beide Seiten und deren Unterstützer zu beeinflussen, mit allem Nachdruck an einer Lösung arbeiten.

Der Rachefeldzug in Gaza muß aufhören und zwar sofort.

In großer Sorge
Ihr
Lutz Lorenz

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„Auf ein Wort“ von Jakob Hein
Wir hörten die Nachrichten über die Flüchtlinge aus Syrien schon seit einem Jahr, als eine Anfrage dann aus dem Bistum kam, die nach einemZuhause für ein aus Damaskus geflohenes, jugendliches christliches Geschwisterpaar suchte. Wir hatten Platz, sind beide Sprachlehrer im Ruhestand. Wir verabredeten uns also und beschlossen, sie aufzunehmen. Es war 2016. Heute sind D. und L. im Studium, (Architektur und BWL Rechnungswesen,) sprechen fließend Deutsch, sind Deutsche geworden. Wie sehr wir den anderen Flüchtlingen einen so guten Weg wünschen! Es wäre möglich.
J u. F Bl

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Sehr geehrte Damen und Herren,

in einem Beitrag zu Chrismon 12/2023 ist der letzte Satz:

"Die Christen in Deutschland haben also allen Grund, solidarisch mit Israel zu sein".

Wieso sollen Christen sich mit einem Land solidarisch erklären ?? Der urchristliche Gedanke, an das Gute im Menschen zu glauben und für "seine Nächsten" das Beste zu wünschen und sie "wie sich selbst" zu lieben, ist nicht eingeschränkt auf einzelne Menschengruppen (oder gar Staaten) - dieses Gebot ist doch viel umfassender und impliziert die unbedingte Achtung und Liebe zu ALLEN Menschen. Also insbesondere zu all denen, die leiden, angegriffen, geschädigt, geschändet oder anderweitig in Ihrer Gesundheit und Freiheit eingeschränkt werden.

Im konkreten Konflikt Israel/Palästina bedeutet das doch, dass das christliche Gebot uns aufträgt, alle, die unter diesem Konflikt leiden, zu unterstützen und zu ihnen zu halten.
Und wenn israelische Soldaten dabei im Gazastreifen friedliche Menschen angreifen und töten (gibt es eigentlich eine Ausnahme im Sabbat-Gebot, wonach kriegerische Handlungen auch am Sabbat erlaubt sind ??), sind diese Opfer von Christen mit der selben Unterstützung zu bedenken, wie friedliche Menschen in Israel, die durch Angriffe geschädigt und bedroht sind. Alles andere ist doch eine inkonsequente und parteiisch-einseitige
Sicht- und Handlungsweise.

Aber Christen tun sich wohl grundsätzlich schwer damit, bei bewaffneten Angriffen und Konflikten eine Lösung und Abhilfe für die ursächlichen Spannungen und Hintergründe zu finden und bei jeglicher bewaffneten Auseinandersetzung vorurteilslos die angegriffenen Menschen zu unterstützen. Auch bedeutet das Liebes-Gebot gegenüber "dem Nächsten"
in Konsequenz,
auch zu den Angreifern eine positive Grundhaltung haben zu müssen, ungeachtet irgend einer historischen oder geschichtlichen - ggf. über hunderte oder tausende von Jahren zurückliegenden - Vorgeschichte. Jeglicher Genozid oder Pogrom von Menschen gegen andere Menschen widerspricht urchristlichem Grundsatz, gleichgültig wer diese begeht !

Und ist nicht die klare Aussage der israelischen Regierung ihres Ziels, die Hamas-Mitglieder auslöschen und die palästinenzischen Zivilisten aus dem Gaza-Streifen, am besten auch noch aus dem Westjordanland, vertreiben zu wollen, auch der klare Aufruf zum Pogrom, in diesem Fall von Bürgern Israels gegen palästinenzische Bürger ? Müssen Christen gegenüber einer solchen Ankündigung nicht entsetzt reagieren ? Und wieso haben die Christen in Deutschland "allen Grund, solidarisch mit Israel zu sein", wenn Israel sich so gegenüber anderen Menschen verhält ?? Dann unterstützen die deutschen Christen doch wieder ein Pogrom und einen Genozid ?!

Aber leider funktioniert ja schon nicht einmal innerhalb der eigenen Gemeinde, geschweige denn gegenüber anderen christlichen Gruppen die positive Zuneigung und Grundhaltung. Käme es sonst zu Auseinandersetzungen wie in Irland ? Das Rechthabenwollen steht in der Praxis leider bei den Christen, auch wenn sie treue Kirchgänger sind, außerhalb der Gottesdienstzeiten oft in direktem Widerspruch zu den Glaubensgrundsätzen.

Mit freundlichem Gruß

Dr.-Ing. Wolfgang Ißler

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Sehr geehrter Herr Hein!
Sie fordern, im Bewusstsein um die Geschichte zu schweigen. Sie meinen bestimmt Luther mit den 95 Thesen und die darauf folgenden Religionskriege mit Millionen Toten. Aber warum soll man das beschweigen?

Viele Grüße

Hanns Schneider,

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Als "braver" Bürger der westlichen Welt- und "Werteordnung" sollt ihr stets KAPITULIEREN, vor der "freiheitlich-wettbewerbsbedingten Symptomatik, egal wie intrigant, widersprüchlich und zynisch diese ist.