Oliver Biermann
Starkes Team: Oliver Biermann mit Assistent und Sprachcomputer
Joschka Moser
Leben mit Behinderung
Echt ’ne Marke!
Sein Körper macht nicht mit. Aber Oliver Biermann ist ein sehr guter Kopfarbeiter. Dann gründet der Berliner eine Firma
Tim Wegner
Jonas Berndt
27.04.2022
12Min

Die zwei Ohrensessel sind viel für das kleine Wohnzimmer, in dem sich auch ein ausladendes Sofa, ein Couchtisch und eine übervolle Schrankwand drängen. Aber den einen Sessel nutzt Oliver Biermann zum Fernsehen. Und der andere ist für das Schaf reserviert. Für das Schaf aus Plüsch.

Oliver Biermann ist 32 Jahre alt, hat ein schmales, ­offenes Gesicht mit blauen Augen und einem kleinen Schnurr- und Kinnbart. Schon als Kind liebte er Schafe. Das Plüschschaf begleitet ihn, seitdem er 13 ist. Es ist fast so groß wie er. Das schwarze Fell, die beigen Pfoten und das beige Gesicht sind abgekuschelt, das Tier grinst fröhlich, hebt die Hand wie zum Winken und trägt eine rote Trainingsjacke. Das ist das "Red Sheep".

Das Red Sheep ist Oliver Biermanns Marke, seine Story, sein großes Ding. "Red Sheep Eis" – er will Speiseeis her­stellen. Aus Schafsmilch, bio, mit Zutaten aus der Region, für die hippen Berliner.

Er will sich selbstständig machen, eine Firma gründen, es allen zeigen: seiner Familie, den Lehrern von früher, den Behörden. Den Frauen auf den Dating­portalen, mit denen er ab und zu chattet. Und allen, die ihm auf der Straße, im Supermarkt, in der U-Bahn begegnen und in ihm nur eins sehen: einen schwerbehinderten Mann im Rollstuhl.

Um seine Spastiken zu dämpfen, raucht Oliver Biermann einen Joint

Oliver Biermanns Arme und Beine ­machen, was sie wollen. Seine Hände sind spas­tisch gekrümmt. Nur mit Hilfe seiner ­Assistenten und Assistentinnen kann er ­essen, trinken, auf die Toilette gehen und schlafen. Damit er aufrecht sitzt, schnallen sie ihn im Rollstuhl so fest, dass man meint, er bekäme keine Luft mehr. Die Arme binden sie an die Lehnen des Rollstuhls, sonst wandern sie sofort Richtung Kopf. Er kann selbstständig schlucken, aber manchmal müssen sie nach­helfen und ihm die Speiseröhre zudrücken. Sieht brutal aus. Tut gar nicht weh, sagt Oliver Biermann.

Mit drei Jahren erkrankte er am hämolytisch-­urämischen Syndrom, einer Infektion mit einem Vorgänger des EHEC-Virus. Sie schädigte die ­Nieren und Teile des Kleinhirns, das Bewegungsabläufe ­koordiniert und die Muskelspannung reguliert. Seitdem spannen sich seine Arm- und Beinmuskeln häufig an und verkrampfen; seine Arme und Beine sind klein und dünn – wie sein ganzer Körper.

Er wohnt in zwei Zimmern, Küche, Bad, Balkon in Berlin-Friedrichshain. An diesem Mittwoch­nachmittag im März sitzt er im elektrischen Rollstuhl am Tisch in der Wohnküche. Vor ihm steht der "Talker", ein Sprach­computer. Oliver Biermann klebt ein kleiner Sensor auf der Stirn. Mit ihm und Bewegungen des Kopfes steuert er geduldig die Buchstaben und Symbole auf dem Bildschirm an.

"Nenn mich Oli", sagt die Computer­stimme – erst jedes Wort einzeln, dann noch mal flüssig den ganzen Satz. Mit fünf bekam er den ersten Talker – "zwei Wochen gebraucht, um zu lernen", sagt die Computerstimme. Er konnte schon sprechen, bevor er krank wurde. Der Talker ist seine Verbindung zur Welt.

Die Eltern unterstützten ihn, wo sie konnten. Auch in der Schule lief es bis zur zehnten Klasse gut. In der Schule für körper­behinderte Kinder nahm man Rücksicht auf sein Tempo, für die Prüfungen ­bekam er doppelt so viel Zeit wie die anderen. Später wechselte er auf eine Gesamtschule, in der behinderte und nicht ­behinderte Kinder zusammen lernen, und machte einen sehr guten mittleren Abschluss. Danach nahm er Anlauf zum Abitur – und scheiterte. "Die Lehrer dachten, nach der zehnten Klasse gehe ich eh ab. Als ich dann immer noch dasaß, wollten sie mir zeigen, wo der Hammer hängt. Zugegeben, ich war nicht sehr fleißig", sagt die Talkerstimme. Ohne Abitur aber schien der Weg in die berufliche Parallelwelt behinderter Menschen ­vorgezeichnet, in die Fürsorge, in die Abhängigkeit von sozialen Trägern.

Oliver besucht Maeva, die vor einiger Zeit für ihn gearbeitet hat

"Damals habe ich mir große Sorgen um dich gemacht", sagt Sven Rothe, "so in Richtung Suizid." Rothe ist 36 Jahre alt, freundlich, lustig. Er ist einer von Olis Assistenten und arbeitet seit 15 Jahren für ihn. "Damals" wohnte Oli bei seinen Eltern im branden­burgischen Werneuchen, Sven Rothe machte seine Aus­bildung zum Heil­erziehungspfleger und fuhr mit ihm zur Games Convention oder ging mit ihm ins Kino. Rothe sitzt dicht bei ihm und biegt alle paar Minuten Olis Unterschenkel nach oben oder hinten, um die Oberschenkelmuskeln für einen Moment zu lockern, oder er drückt die linke Hand nach oben, um den Unterarm zu entspannen. Was Oli will, liest Sven Rothe meistens an den Blicken ab.

Er kennt Olis Familie, seine Geschichte. Kennt Olis Neid auf die fünf Jahre jüngere ­Schwester. "Konkurrenz", korrigiert Oli. Die Schwester schaffte das Abitur mühe­los. Trotzig ließ sich Oli mit 18 Jahren Tribals, Stier und Drache auf Arme und Schultern tätowieren.

Die Schwester studierte Informatik, er machte eine Ausbildung zum Bürogehilfen in einer Lernbehinderten­schule. "Die fingen mit dem kleinen Einmaleins an und was ein ­Adjektiv ist, da habe ich natürlich nur geschlafen", sagt Oli. Die Ausbildung helfe auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht weiter, "weil man damit sozusagen die Kaffeeschlampe ist. Und ich kann weder Kaffee kochen noch Papiere sortieren." Oli verzieht das Gesicht zu einem großen Lachen.

"Hat dir deine Schwester durch ihr Studium vielleicht auch gezeigt, was möglich gewesen wäre, wenn . . .?" Sven Rothe lässt den Satz offen. Oli nickt.

Es allen zu beweisen, ist ein wichtiger Ansporn

Manche Leute sagen, man könne von behinderten Menschen lernen, das Leben an sich zu schätzen, ohne Leistungsdruck, ­ohne dass man sich permanent mit anderen vergleicht, ohne ständig ­höher und weiterkommen zu wollen. Von Oliver Biermann kann man lernen, dass das Vergleichen auch dann nicht aufhört, wenn man sich kaum rühren kann. Es sich und allen zu beweisen, ist für ihn ein wichtiger Ansporn.

Oliver Biermanns Sprachcomputer

An der Pinnwand in der Küche kleben viele Zettel. "Red Sheep soll eine eigene ­Marke werden, um in der Gesellschaft für VOLL genommen zu werden", steht da. "Die ­Marke Red Sheep soll zeigen, dass Oli seine eigene Firma aufbauen kann und kein hilfloser Mensch ist, der von vielen als Kind gesehen und belächelt wird." Aus dem schwarzen Schaf soll ein rotes werden.

Andere Post-its verdeutlichen, warum sein Eis besonders ist: Schafsmilch – mehr Kalzium, besserer Geschmack, leichter verdaulich, dafür teurer – fällt auf – auch vegane Sorten – setzt sich von anderen ab – zuckerfrei – haus­gemacht – Verpackung aus Glas – recycelbar – Inklusion – Hoffnung für andere.

Über Crowdfunding kam schnell Geld zusammen

Anruf bei Anja Thonig, Spezialistin für Crowdfunding und Gründungscoachin. In den vergangenen acht Jahren hat sie nach ­eigenen Angaben über 360 Kampagnen und Existenzgründungen mit auf den Weg gebracht. Oli kam 2019 mit einem Coachinggutschein vom Jobcenter zu ihr. Eindreiviertel Jahre hat sie ihn zweimal die Woche getroffen und mit ihm zusammen aus der vagen Idee, Eis herzustellen, die Red-Sheep-Marke mit Firmenlogo entwickelt, den Business­plan erstellt und eine Crowdfunding-Kampagne durchgeführt mit Webauftritt und Videos auf Instagram und Facebook. Es komme auf die "Story" an, sagt Anja Thonig. Olis Geschichte fasziniere die Leute. Er sei ein "Mutmacher", lasse sich nicht in Schub­laden stecken und ­habe einen starken Willen. "Wenn jemand so an etwas glaubt, hat er es verdient, unterstützt zu werden."

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Innerhalb von neun Wochen kamen per Crowd­funding die erhofften 12 000 Euro für die Maschinen und Geräte für die Eis­produktion zusammen. Trotzdem, sagt Anja Thonig: Oli werde nicht selbst an den Maschinen stehen, die Story werde nicht greifbar sein. Vielleicht kann man sie auf Papierchen drucken und an die ­Gläser und Becher mit dem Eis hängen oder per QR-Code verlinken, überlegt die Marketing­expertin. Die Story sei wichtig, aber das Eis müsse schon auch überzeugen. Und allein der Wille, eine Firma zu gründen, reiche nicht. Die Mit­arbeiter im Jobcenter hätten Oli kräftig unterstützt, sagt Thonig. Schon, dass sie ihm so viele Coaching­stunden bei ihr bezahlt haben, sei außer­gewöhnlich.

Andere, die sich selbstständig machen wollen, könnten ­davon nur träumen.
Den Tag beginnt Oliver Biermann mit einem Schokoladeneis-­Shake, die Kühltruhe ist voller Gläser mit selbst gemachtem Eis. Die neuesten Sorten sind Peanut-Butter-Jelly, Cheesecake und veganes Karotte-­Apfel. Oli hat die Ideen, recherchiert die Zutaten, ein Assistent mischt sie in Olis Küche zusammen, püriert, füllt ab.

Die Pinwand in Olivers Küche

Wieso überhaupt Eis, Oli? Sven ­Rothe, der Assistent, zeigt Urlaubs­fotos auf Olis Handy von Italien, Mailand, Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Oli beim Baden im Meer, Oli beim Baden im Pool, Oli entspannt auf einem Handtuch in der Sonne liegend. Seitdem er als Kind mit seinen Eltern in Italien am Meer war, kann er nicht genug bekommen von ­diesem Land, vom italienischen Fußball, vom Eis. Das Schlafzimmer hat er grün-weiß-rot streichen lassen, der Kleiderschrank ist schwarz-weiß – die Farben von Juventus Turin. An den Ecken des Betts ragen schwarze Pfosten nach oben: Daran will er einen Baldachin anbringen lassen mit dem Wappen von Juventus.

Die Sonne über Berlin geht unter. Zeit für einen Joint. Sven Rothe mag keinen Rauch, aber was Oli will, wird gemacht: Rothe dreht eine Tüte, steckt sie ihm in den Mund und hält ihm zugleich Mund und Nase zu. Nur so kann Oli inhalieren. Er bekommt Cannabis auf Rezept, einmal im Monat bringt der Lieferdienst der Apotheke die getrockneten Blüten vorbei. Cannabis und Alkohol entspannen ­seine Muskeln. Oli lächelt zufrieden, nach ein paar Zügen werden seine ­Augen ein wenig glasig.

So leben, wie er will

Vor neun Jahren kam Oli nach Berlin, um so zu leben, wie er es will. Anfangs betreute ihn ein Pflegedienst. Doch manche Pfleger seien nicht pünktlich gekommen, hätten ihn stundenlang allein sitzen lassen, erzählt Oli. Andere kamen betrunken und fläzten sich aufs Sofa, statt seine Muskeln zu bewegen. Mehrfach musste er laut schreien, damit die Nachbarn mit dem Zweitschlüssel rüberkamen und ihm halfen. "Volle Katastrophe", sagt Oli.

Seit fünf Jahren läuft es anders: Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales überweist Oli ein Budget, er sucht sich die Assistenten selbst aus und stellt sie als Arbeitgeber an. "Persönliches Budget" heißt diese Form der 24-Stunden-Unterstützung, Menschen wie Oli haben seit 2008 darauf einen Anspruch. Die Abrechnungen erledigt ein Verein für ihn. Oli beschäftigt vier Assistenten und zwei Assistentinnen.

Crowdfunding- Expertin Anja Thonig unterstützt ihn bei der Gründung des Start-ups

Einer hört auf, und Oli sucht gerade über das Internetportal assistenz.org Ersatz: eine Vollzeitkraft, 36 Stunden pro Woche. "Trotz der schweren körper­lichen Behinderung bin ich lebensfroh, abenteuerlustig, humorvoll und sehr reisefreudig. Ich bin ein absolutes Leichtgewicht und vielleicht etwas ­schwerer als eine Kiste Bier. Und ihr werdet es nicht glauben, ich hab ­sogar Griffe", steht in der Anzeige. Griffe? Durch die Spastik, die Muskel­anspannung, könne man ihn leicht hochheben und tragen, erklärt Oli.

Infrage komme "ein freundlicher und unkomplizierter Mensch im Alter von 25 – 35 Jahren, das Geschlecht ist mir wurst", heißt es in der Anzeige weiter. "Mein Team arbeitet in 12-Stunden-Schichten von 9 – 21 Uhr und 21 – 9 Uhr. Humor, Geduld, Zuverlässigkeit und ein ­ruhiges Gemüt sind mir sehr wichtig. Wenn du auch Freude am Reisen hast, wäre das von Vorteil. Pflegerische Kenntnisse sind nicht nötig. Alles, was ihr wissen müsst, werdet ihr in der Einarbeitung lernen."
Es klingelt, ein junger Mann kommt zum Bewerbungsgespräch. Erzähl was von dir, fordert Oli ihn über den Talker auf und fragt: Kannst du Joints drehen? Fährst du gern weg?

Wie ein Bürgermeister nach einem schweren Unfall mit Widerständen kämpft, lesen Sie im Portrait über Markus Ewald

Wer Oli assistiert, darf nicht zimperlich sein. Es kostet Kraft, die Muskeln gegen großen Widerstand zu bewegen. "Wir kämpfen eigentlich den ganzen Tag mit Oli gegen seinen Körper", drückt es ein Helfer aus. Die Assistenten und Assistentinnen waschen und füttern ihn und schlafen mit ihm in einem Bett – um sofort zu merken, wenn er anders gelagert werden will.

Es gibt nichts, was sie nicht über Oli wissen. Sie sind ­dabei, wenn er am Computer Brandenburger Schafbauern recherchiert und wenn er ab und an Prostituierte kontaktiert und zu sich nach Hause kommen lässt. "Dann geht man eine Stunde ins Nebenzimmer", sagt ein Assistent, "wenn die Frau geht, wird an der Tür geklopft, dann kommt man wieder raus."

Sven Rothe hat auch mal in einer potenziellen Produktionsstätte für Olis Eis Graffiti von den Wänden geschrubbt. Als es ab war, stellte sich heraus, dass das Gebäude verkauft und abgerissen werden soll.

Olivers und sein "Red Sheep", das Maskottchen seiner Eismarke

Selbstbestimmung? Autonomie? Heißt für Oli: Er und sein Team arbeiten gemeinsam an ­seinen ­Plänen. Einige, die ihn unter­stützen, sind zu ­Freunden oder Freundinnen geworden. Im Wohn­zimmer hängt ein großes Foto von Oli und ­Anna. Die ­junge Frau hat einen Arm um Oli gelegt, beide lächeln in die Kamera. Anna hat sich umgebracht. Ein ­großer Schock für Oli. Wenn es draußen ­wärmer wird, möchte er als Erstes wieder zu ihrem Grab ­fahren und ihr Blumen bringen. Die ­rote Trainings­jacke, die das Red Sheep trägt, stammt von ihr.

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Oli hätte gern eine Freundin und hat sich auf Datingportalen umgetan. Sein Eindruck? Da seien viele Roboter unterwegs. "Alle elf Minuten wirst du verarscht", schreibt er in den Talker. Sein Team sei für ihn "wie eine Familie". Mit dem Unterschied: Hier muss er sich nicht vergleichen. Hier ist er der Chef. Er ist derjenige, der den Bewerbern etwas zutraut oder nicht. Wenn es persönlich nicht passt oder jemand auch nach Wochen seine Blicke und Ges­ten nicht zu verstehen gelernt hat, entlässt er die Leute.
Und? Kommt der Bewerber von vorhin infrage? "Langweilig", sagt Oli. "Zu nett, zu lieb zu einfach allem."

Juventus gewinnt - ein guter Tag!

Am Abend spielt Juventus Turin gegen Florenz. Oli kniet sich auf seinen Fernsehsessel – so kann er am besten ­ohne Rollstuhl sitzen – und verfolgt das Spiel. In der Nachspielzeit unterläuft den Florentinern ein Eigentor. Das Spiel endet 1:0 für Juve. Oli kreischt und lacht. Ein guter Tag.

Am nächsten Mittag lässt sich Oli in eine Ecke von Neukölln fahren, wo es noch nicht so trendy ist. Hier gibt es noch traditionelle Döner­imbisse und Cafés ohne Hafermilch im Angebot. Hier will Oli in einem leer stehenden Ladenlokal sein Eis verkaufen. Er lässt sich mitsamt Rollstuhl hochheben, um einen Blick hinter die vergitterten Fenster zu werfen. Ein großer Raum geht vorn zur Straße raus, ein kleinerer, gekachelter nach hinten. Ein paar blaue Müllsäcke stehen auf dem Boden, mehr lässt sich durch die verstaubten Fenster nicht sehen.

Es scheint, als würde der Traum in Erfüllung gehen

Anja Thonig, die Crowdfunding-Expertin, hat eine Foodfirma übernommen und will ­vorne im Laden Kombucha-Getränke und fermentiertes Essen anbieten. Hinten sollen die Eismaschinen schnurren, das Eis soll vorn mitverkauft werden. Thonig hat den Mietvertrag unterschrieben, Oli wird Untermieter. Das Bezirksamt hat der Lebens­mittelproduktion zugestimmt, jetzt können sie mit der Renovierung der Räume beginnen.

Es scheint, als würde Oliver Biermanns Traum von der ­eigenen Eismanufaktur in Erfüllung gehen. Noch ist viel zu tun. Zurück in Olis Küche fällt der Blick auf eine To-do-Liste: Der Business­plan muss an einigen Stellen nachgearbeitet und Vertriebswege müssen geklärt werden, auch sind noch nicht genügend Schafsmilchlieferanten beisammen. Und die Gesundheitszeugnisse für Oli und sein Team fehlen noch. Die Assistentinnen und Assistenten sollen zumindest anfangs an den Maschinen stehen.

Oliver Biermann bei einem Besuch in Eberswalde

Er habe viel kämpfen müssen, sagt Oli. Um den Auszug nach ­Berlin, um sich mit dem Team selbstständig zu machen. Und als er sich kürzlich ein neues Sofa zulegte, habe er mit den Eltern ringen müssen, bis sie ihm dafür Geld überwiesen. Aber nicht falsch ver­stehen: Das seien "coole Eltern". Und er sei ja auch ganz schön stur. Momentan lebt er von Hartz IV, die Eismanufaktur soll seine Existenz sichern. Damit das klappt, will er sogar auf Urlaub verzichten.

"Bist du stolz darauf, dass du dir in Berlin das Leben aufgebaut hast, auf das du Bock hast?", fragt der Assistent.
"Nicht genug", antwortet Oli.
"Bist du stolz, wenn das mit dem Eis klappt?"
"Nicht genug", sagt Oli.
"Was kommt danach?"
"Auswandern. Nach Italien", sagt Oli.
"Krass", sagt der Assistent.
"Hölle, ich komme", sagt Oli und lacht.

Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 27.05.2022.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist beeindruckend , wie Oliver B.mit seiner Behinderung lebt, wieviel technische Unterstützung möglich ist, aber auch wieviel menschliche Zuwendung notwendig ist und auch geleistet wird. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es trotzdem im Leben von Oliver B. auch Phasen von Traurigkeit, Unzufriedenheit und Aggression gibt, denn das Leben ist trotz der vielen Hilfen nicht einfach. Und gerade deshalb fällt mir ein Satz von Oliver B. sehr unangenehm auf, nämlich der, wo er Menschen, die nur einfache Tätigkeiten verrichten können, als "Kaffeschlampen" bezeichnet. Diese Ausdrucksweise spricht nicht für die Achtung aller Menschen, ob klug oder nicht klug, ob behindert oder nicht behindert.
Mit freundlichen Grüßen
H. Sörensen

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„Echt ‘ne Marke!“ Oliver Biermann, Leichtgewicht, Rollstuhlfahrer, Firmengründer. In chrismon plus 5/2022
Ich kenne Oliver, er war schon damals „besonders“ und hatte liebe, engagierte Eltern. In Olivers Schule war ich lange die Sozialarbieterin – Oliver kannte aber sicher mehr die Erzieher und Lehrer. Wunderbar, wenn ein Schüler seinen Lebensweg schafft. Pardon, das ist leider nicht immer der Fall. Ich fühle mich Ihnen verbunden, wie Sie an das Thema herangehen. So menschlich warm und voller Achtung. Monika H.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für den offenen Bericht (inkl. Titelfoto) über Oliver Biermann!
Schaut man doch oft eher betreten weg, wenn man einem Menschen mit Behinderung begegnet.
Der Artikel lehrt uns, hinzuschauen und vermittelt Verständnis und wichtige Erkenntnisse.
Besonders mutig fand ich die Erwähnung der Prostituiertenbesuche, weil das Ablehnung ("Prostitution ist Sünde") oder Mißgunst ("Dafür reicht scheinbar die Sozialhilfe") auslösen kann.
Vielleicht könnten Sie diesen wichtigen Aspekt mal mit einem eigenen Artikel vertiefen über SexualassistentInnen wie z. B. Edith Arnold (www.sexualbegleitung-hamburg.de)?
Vielen Dank für Ihr Engagement für ein modernes, weltoffenes Christentum.
Josef Appelshoffer