Portrait - Dörrers Fälle
Walter Dörrer spricht im Corona-Abstand mit einer Frau, die er begleitet
Anne-Sophie Stoltz
Berufsbetreuung
Dörrers Fälle
Herr Radek hat sich mit der Chefin angelegt, Frau Paulsen ist fast blind, und ein junger Mann hat seine Wohnung angezündet. Unterwegs mit einem Berufsbetreuer
Tim Wegner
Joshua Kaiss
24.06.2020
14Min

Walter Dörrer gibt so schnell keinen auf. Wenn sich einer weigert zu sprechen und sich in seiner Wohnung verkriecht, kommt er eben nächste Woche wieder. Irgendwann ist der Moment da, in dem sich ein Mensch öffnet. Dörrer hat das dutzendmal erlebt. An diesem Morgen wollte er es noch mal mit dem jungen Mann ver­suchen und ihn überzeugen, dass eine am­bulante Psychotherapie gut wäre. Dass sie ihm helfen würde, selbstständig zu bleiben.

Jetzt steht Dörrer vor einem Mehrfamilienhaus in einem kleinen Ort in der Nähe von Stuttgart. Der Verputz über einem Fenster im Erdgeschoss ist schwarz. Der junge Mann hat in der Nacht in seiner Wohnung Feuer gelegt.

"Erfahren, qualifiziert, engagiert" – so beschreibt ein Mitarbeiter der Betreuungsbehörde Ludwigsburg Walter Dörrer

Walter Dörrer ist rechtlicher Betreuer, ein Berufsbetreuer, das, was man früher Vormund nannte. Einer von 16 100 in Deutschland, die anderen zur Seite stehen, wenn sie in ihrem Alltag dauerhaft nicht allein klarkommen und sich nicht mehr um ihre finanziellen und rechtlichen Dinge kümmern können. Weil sie psychisch krank sind oder beeinträch­tigt oder alt und gebrechlich oder dement. Oft kümmern sich die Angehörigen, doch viele Familien leben weit verstreut, und Unterstützung bei Behörden zu beantragen, ist so komplex geworden, dass sich Söhne und Töchter häufig überfordert fühlen. Nach einer Studie des Verbraucherschutzministeriums von 2018 wurden 1992 in 75 000 Fällen Berufsbetreuer eingesetzt – und 2016 in 192 000 Fällen.

Dass einer seine Wohnung anzündet, ist für Dörrer ein Tiefpunkt und in 27 Berufsjahren noch nicht vorgekommen. Hätte nicht ein Nachbar auf dem Weg zur Arbeit den Rauch bemerkt und die Polizei alarmiert, wäre womöglich das Haus abgebrannt. Der junge Mann wurde festgenommen und mit Gerichtsbeschluss in die forensische Psychiatrie gebracht. Dörrer hat in der Frühe gleich die Betreuungsbehörde informiert, nun überlegt er ruhig die nächsten Schritte. Vor allem denkt er an den jungen Mann, der eine Straftat begangen hat und in der Psychiatrie einsitzt. "Das hätte ich ihm gern erspart", sagt Dörrer, "jetzt wird es sehr lange dauern, bis er wieder ein eigenständiges Leben führen kann."

Dörrer 62, verheiratet, zwei Töchter, ist ein "Vollblutsozialarbeiter", wie er sagt. Durch die buschigen Augenbrauen und den dunklen Schnauzbart wirkt sein Gesicht gemütlich und doch streng. Dass er "Läbe" sagt statt "Leben", verstärkt das Gemütliche. Weil er die Unab­hängigkeit mag, arbeitet er freiberuflich.

Auch seinen Betreuten will er ermöglichen, dass sie über den Tagesablauf, die Gesundheit, das Geld selbst entscheiden. Er ist gesetzlich verpflichtet, sie zu unterstützen, "ihr Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten". Zugleich muss er in ihre Freiheit eingreifen, um ihnen zu helfen. Ein Dilemma. "Mache ich zu viel, schränke ich die Freiheit womöglich unnötig ein. Mache ich zu wenig, riskiere ich, dass die Betreuten sich und andere schädigen", sagt er. Wobei er immer auf der Seite der Betreuten steht. Es ­ sei nicht seine Aufgabe, Herrn H. oder Frau S. "zur Räson zu bringen", weil sich Nachbarn über laute Musik beschweren.

Wo eingreifen? Wo lockerlassen?

Jeden Tag wägt Dörrer ab: Wo muss ich eingreifen? Wo kann ich lockerlassen?
Zurück zu dem Brandstifter: Ein halbes Jahr zuvor hatte das Betreuungsgericht angefragt, ob er den Fall übernehmen könne – ein junger Mann, psychisch labil, keine Arbeit. Er hatte bei seiner Mutter gewohnt, die gerade gestorben war. Es lief recht gut an, Dörrer begleitete ihn zum Jobcenter, zum Sozialamt und zu Ärzten. Doch seitdem Dörrer anregte, einen Neuro­logen aufzusuchen, ignorierte er Verabredungen, öffnete nicht, ging nicht ans Telefon.

Er versuchte es freundlich, dann bestimmt, Anfang Dezember beantragte er beim Amtsgericht eine Genehmigung, um den Mann gegen seinen Willen in die psychiatrische Klinik einzuweisen. "Es liegt überhaupt nicht in meiner Art, jemanden zu etwas zu zwingen", sagt Dörrer. "Aber ich konnte es nicht laufen lassen."

Kurz vor Weihnachten informierte ihn das Gericht, dass ein Gutachter beauftragt worden sei. Wochen später meldete sich der Gutachter, um einen Termin mit dem jungen Mann auszumachen. Dazu kam es nicht mehr. Dörrer kann hier erst mal nichts tun. Er ­betreut 70 Fälle, der nächste wartet schon. Also rein ins kleine rote Auto. Im CD-Spieler steckt jazziger Reggae.

Wie ein schwerbehinderter Mann gemeinsam mit einer Mitarbeiterin aus dem Jobcenter eine Eis-Manufaktur gründet, lesen Sie hier

Betreuer sein ist viel Beziehungsarbeit. Dörrer sagt, er investiere gerade am Anfang sehr viel Zeit und Energie in einen Fall, oft mehr, als durch die Fallpauschalen abgedeckt sei, um Vertrauen aufzubauen und damit er die Situation gut einschätzen kann. Läuft es gut, entsteht so ein Fundament, das auf Jahre trägt. Später trifft er die Menschen in größeren Abständen oder wenn etwas Besonderes anliegt.

Walter Dörrer ist zwischen Stuttgart und Ludwigsburg unterwegs zu Hausbesuchen

Diese Reportage begann, als sich in Stuttgart keiner Gedanken um Corona machte. Ende März schreibt Dörrer: "In diesen Zeiten zeigt sich, was ich immer erzähle: Als Betreuer bin ich eher Schreibtischtäter, aber ich muss meine Betreuten und ihre häusliche ­Situation so gut kennen, dass ich auch aus der Entfernung sichere Entscheidungen fällen kann." Berufsbetreuer gelten als "systemrelevant". Er vermeide aber die Hausbesuche, weil viele, mit denen er zu tun habe, wegen Vorerkrankungen besonders gefährdet seien. Umso mehr tele­foniere er. Viele seien verunsichert und holten sich bei ihm "eine Portion Sicherheit" ab.

Er ist nicht der Kumpel, der zum Quatschen kommt

Zurück in den Januar und ins ­kleine rote Auto: Es geht über sanfte ­Hügel, vorbei an Wiesen und Feldern, ein Stück über die Autobahn in einen kleinen Ort, dann parkt Dörrer vor einem Hochhaus. Hier wohnt Niko Radek. Er ist ­Mitte 20 und heißt in Wirklichkeit anders. Menschen mit psychischen Erkrankungen hätten eine besondere Scham, öffentlich zu machen, dass sie krank sind, sagt Dörrer. Er kann das nachvollziehen. "In einer Gesellschaft, in der zählt, dass man funktioniert und Leistung bringt, ist es eine große Kränkung, sich einzugestehen, dass man fürs Funktio­nieren Medikamente braucht."

Dörrer kennt Niko Radek seit fünf Jahren. Die kleine Wohnung ist penibel aufgeräumt, die weißen Bodenfliesen sind sauber, an den Wänden hängen Ölgemälde im Stil von ­Jackson Pollock. Die hat der verstorbene ­Vater gemalt. Es ist warm, Dörrer lässt trotzdem seine Jacke an und lehnt das Kaffeeangebot ab. Er ist nicht der Kumpel. Er kommt nicht vorbei, um nett zu plaudern, sondern um ­konkrete Probleme zu lösen.

Niko Radek ist aus der Werkstatt für ­psychisch Kranke rausgeflogen, weil ein Streit mit der Chefin eskalierte. Dörrer hört sich geduldig an, wie es dazu gekommen ist, runzelt die hohe Stirn und sagt: "Herr Radek, Sie dürfen halt net gleich den Bettel hinschmeißen, wenn’s schwierig wird!" Radek will zurück in den Betrieb. "Und was machen Sie nächstes Mal bei einem Konflikt?", will Dörrer wissen. "Dann geh ich zum Gruppenleiter." Dörrer nickt und macht sich auf seinem Klemmbrett Notizen.

Nach einer Weile fragt er mit einem Lächeln: "Sonst haben Sie aber gerade einen ganz guten Lauf, oder?" – "Hab viele positive Gedanken. Aber ich fühle mich oft allein", sagt Radek. Dörrer rät ihm, an die Werkstatt zu schreiben und ein paar Bewerbungen an andere Arbeitgeber zu schicken. Das will er ihm nicht abnehmen. "Er soll sich anstrengen und sehen, wie schwer es ist, den Job zu kriegen. Vielleicht gibt er dann nächstes Mal nicht so schnell auf", sagt Dörrer hinterher im Auto.

Kleine Schritte

Oft ist eine psychische Krankheit der Anlass, dass jemand einen Betreuer braucht. Dörrer ist froh, wenn die Betreuten psychisch einigermaßen stabil sind, ihre Medikamente regelmäßig nehmen und nicht in den Alkohol abstürzen. Darüber hinaus sind oft nur kleine Schritte möglich: eine Hilfstätigkeit, ein Wiedereingliederungsprogramm, vielleicht einen Schulabschluss nachholen. Einige haben sich so gut entwickelt, dass sie ihn nur noch als "Sicherungsnetz" brauchen, wie er sagt.

Ein paar Orte weiter öffnet ein bulliger Vierzigjähriger die Tür. Es riecht nach abgestandenem Zigarettenrauch, die Jalousien sind halb runtergelassen, Teppich und Sofadecken sind fleckig. Hier wohnen Mutter und Sohn. Dörrer kennt sie lange. Der Sohn meldet sich alle paar Tage bei ihm, doch jetzt hatte ihn das Krankenhaus angerufen: Die Mutter war eingeliefert worden, nachdem der Sohn sie ­geschubst und gezerrt hatte.

"Sind Ihnen wieder die Drähte aus’m Kopf komme?", fragt Dörrer. "Wo ist das Problem?", ruft der Sohn in Richtung der Mutter: "Wenn die halt immer so saudumm daherschwätzt." Schuld sei das "Psychozeug". Die Tabletten würden ihn fett machen, die Potenz sei weg. "Die nehm ich nimmer." Dörrer räumt einen Stuhl frei, setzt sich, nimmt sein Klemmbrett und sagt ruhig: "Ich schlag vor, Sie gehen mal wieder eine Woche in die Klinik und lassen sich medikamentös einstellen." Der Sohn blafft ihn an, er habe ja keine Ahnung, wenn er in die Klinik gehe, wie stehe er dann da vor den Jungs auf der Straße? Dörrer schlägt die Beine über­einander und wiederholt seinen Satz mehrfach. Nach einer halben Stunde willigt der Mann ein und verspricht, den Hausarzt um eine Über- weisung zu bitten. "Dann springet mir mal wieder weiter", sagt Dörrer und verabschiedet sich mit Handschlag und einem Kopfnicken. Freundlich und souverän.

Jeder soll leben, wie er will

"Da verwalte ich nur die Misere", sagt er, nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist. Er erzählt von zwei Leben voller Abbrüche und wenigen Chancen und dass der Sohn die Medi­kamente ja tatsächlich nicht gut ver­trage. Doch was soll er tun? Immer wenn er sie absetze, raste er aus. Nach einer Woche Klinik gehe es eine Weile besser.

Er rate der Mutter oft, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Aber sie lasse sich lieber vom Sohn malträtieren. Das müsse er respektieren. Wie so vieles. Ob es in einer Wohnung dreckig ist, nach Haschisch riecht, ob sich jemand die falschen Partner oder Partnerinnen aussucht – er registriert das, und es beschäftigt ihn, na klar. "Aber es geht ja nicht um meine Moralvorstellungen oder wie ich leben will", sagt Dörrer, "sondern jeder und jede soll so leben, wie er oder sie das möchte."

Immer dabei: ein Klemmbrett, auf dem er Gespräche für das Betreuungsgericht protokolliert

Und doch hat ein Betreuer ganz schön viel Macht. Er kann das Geld rationieren, damit auch in der zweiten Hälfte des Monats noch was da ist. Für den Vierzigjährigen und seine Mutter hat er organisiert, dass alle zwei ­Wochen eine Sozialbetreuerin für 300 ­Euro den Kühlschrank auffüllt. Er sorgt dafür, dass Pfleger und Pflegerinnen die Betreuten versorgen, arrangiert Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte, löst Wohnungen auf und organisiert den Umzug in Pflegeheime, er verhandelt für seine Betreuten mit Job­centern, Versicherungen, Renten- und Sozialkassen und streitet sich für sie auch immer mal wieder vor Gericht mit den Behörden. Dörrer verwaltet Vermögen und Häuser, sucht neue Mieter, und wenn ein Rohr leckt, einen Klempner. Wo man mit ihm hinkommt – er grüßt nach rechts und winkt nach links, hält da ein Schwätzchen mit dem Chef eines ­Krankenfahrdienstes und dort mit der Chefin eines Sozialdienstes. Zwischen Stuttgart und Ludwigsburg kennt er Hinz und Kunz.

Weitere Texte über Menschen, die sich kümmern, finden Sie in unser Themensammlung

Anderntags, bei ihm im Büro in Stuttgart, einer Souterrainwohnung mit einfachen, funktionalen hellen Resopalmöbeln. Die Sekretärin stellt einen Anruf durch. Zeit, sich umzu­schauen: Im Regal stehen dicke rote Gesetzessammlungen, das Medizinlexikon Pschyrembel, Ratgeber zum Umgang mit Medikamenten, zur Nachlasspflege und Schuldnerberatung, "Was tun bei Atemnot?", ein Verzeichnis der Frauenhäuser im Rems-Murr-Kreis, der Bäderkalender mit Reha- und Kurangeboten.

Die Bürokratie nervt

Walter Dörrer öffnet die Aktenschränke: Ordner an Ordner vom Boden bis zur Decke. Nur ein Bruchteil ist das, die meisten verwahrt er im Keller. Wenn ihn überhaupt etwas aus der Ruhe bringt, dann die Bürokratie. "Die Selbstbestimmung wird in den Behörden ­immer größergeschrieben. Und oft mit einem hohen moralischen Anspruch. Aber niemand will mehr Verantwortung übernehmen", schimpft Dörrer. "Könnte ja was schiefgehen." Immer mehr "Papierle" muss er unterschreiben, Datenschutz ist da noch das geringste Problem – dann hat er die Verantwortung. Dörrer scheut davor nicht zurück, und er trifft Entscheidungen – wenn irgend möglich in Absprache mit den Betreuten –, aber immer mit der Unsicherheit, dass er nicht alles überblicken und kontrollieren kann. Damit tut er etwas, was durch Corona viele Menschen tun müssen und vielleicht wieder neu lernen: entscheiden, ohne sicher zu sein, ob sie richtig liegen, planen unter Vorbehalt und mit Risiko, auf Sicht fahren und doch das Große und Ganze nicht vergessen.

Walter Dörrer wurde in den 60ern und 70ern groß mit politischen Arbeitskreisen in der Schule und Demos. Danach machte er eine Ausbildung zum Sozialarbeiter, kümmerte sich um benachteiligte Jugendliche, im Urlaub trampte er mit dem Rucksack durch Marokko und Madagaskar. Später studierte er Betriebswirtschaft, etwas Handfestes. Er arbeitete in der Betreuungsbehörde, aber nur für die ­Namen mit den Anfangsbuchstaben Sch bis T zuständig zu sein, war ihm schnell zu eng. Dann lieber Risiken eingehen, und die können für einen selbstständigen Betreuer beträchtlich sein.

Das Risiko im Kopf

Ein Kollege von Dörrer erzählt am Telefon, dass er nachts nicht schlafen kann, weil sich einer seiner Kunden gerade ins Ausland abgesetzt hat und er dort schwer an seine Medikamente kommt. Was, wenn der Kunde die Kontrolle verliert? Ein anderer Kollege hat mal einen Fall vertauscht und beim Sozialamt vergessen, die unterhaltspflichtigen Kinder anzugeben. Er sollte 40 000 Euro nachzahlen. "Das Risiko ist immer im Kopf", sagt Dörrer. Deshalb dokumentiert er jeden Hausbesuch und hat eine Berufshaftpflichtversicherung.

Auf den Ordnern stehen die Namen und Geburtsjahre der Betreuten, ungefähr halbe-halbe Frauen und Männer, aus fast allen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Eine der ältesten ist Doris Paulsen, Jahrgang 1928. Auch sie heißt anders. Dörrer zeigt den Betreuerausweis, den er vom Betreuungsgericht bekam, als er den Fall 2018 übernommen hat.

Doris Paulsen ist fast blind, hat keine Kinder, ihr Mann ist gestorben. Sie hat sich zusammen mit dem Betreuungsgericht für das "Rundum-sorglos- Paket" bei Dörrer entschieden. So nennt er das, wenn er sich um alles kümmert: um die rechtliche Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialkassen, um die Gesundheitsfürsorge und die Ver­mögensverwaltung. Dörrer könnte sogar ­ihre Post öffnen. Das überlässt er ihr und einer Nachbarin, weil er sie nicht unnötig entmündigen möchte. In anderen Fällen ist Dörrer nur als rechtlicher Stellvertreter oder nur als Vermögensverwalter eingesetzt oder nur für die Gesundheitsfürsorge zuständig.

Möglichst lang selbständig leben

Dörrer will mit Frau Paulsen über eine ­Patientenverfügung sprechen. Denn er hat erlebt, dass Patienten übertherapiert wurden ― und das Gegenteil: dass die Ärzte schon bei einer Lungenentzündung nichts mehr ­machen wollten, weil die Patientin dement war. ­Also rein ins Auto und los. Eine halbe Stunde ­später bittet in einem Mehrfamilienhaus eine zarte Frau im weißen Pullover und dunklen Hosen in die Wohnung. Die Osteoporose hat Frau Paulsens Oberkörper in die Waagerechte gezwungen, was sie aber nicht hindert, sich munter los redend ins Wohnzimmer voranzutasten. Auf dem Boden, im Regal und auf dem Schreibtisch stehen Kisten mit Aquarellzeichnungen in allen Größen. "Kunst war mein Leben", sagt sie, sie habe "beim Heckel" an der Kunsthochschule gelernt.

Aber jetzt möchte sie von Dörrer wissen, ob sie noch von der Rente leben könne oder ­womöglich, mit 92, "schon ans Eingemachte" müsse. Auch soll er ihr bitte schön erklären, warum sie ihn selbst bezahlen muss. "Kann das nicht der Staat übernehmen?" Frau Paulsen stemmt die Hände in die Hüfte, schürzt die Lippen und lächelt verschmitzt in seine Richtung, dass es fast wie Flirten aussieht.

Neuerdings trifft Dörrer Betreute auf Parkbänken

Berufsbetreuer erhalten pro Fall eine gesetzlich festgelegte Monatspauschale, die momentan von 102 bis 486 Euro reichen kann – abhängig davon, ob sie einen Fall neu übernommen ­haben (in den ersten Monaten ist die Pauschale wegen des größeren Aufwands höher), ob die Betreuten im Heim leben, ob jemand ver­mögend ist. Frau Paulsen zahlt ihm momentan 241 Euro im Monat.

Laut der Studie des Verbraucherschutzministeriums sind 88 Prozent der Betreuten mittellos. Frau Paulsen gehört zu den an­deren zwölf Prozent. Walter Dörrer erklärt ihr, dass Menschen ab einem Vermögen von 5000 Euro den Betreuer aus eigener Tasche finanzieren müssen. "Die Grenze ist viel zu niedrig angesetzt", sagt Dörrer. Manche müssten sich zwischen Zahnersatz und ihm entscheiden. Frau Paulsen ist mit der Antwort zufrieden und sagt, dass sie sich schon Gedanken wegen einer Patientenverfügung gemacht hat: Nein, sie will nicht wiederbelebt werden, auch keine Magensonde, keine künstliche Beatmung.

Wer überprüft die Arbeit?

Die alte Frau ist klar im Kopf. Könnte Dörrer sie nicht trotzdem leicht betrügen? Konten manipulieren? Einmal im Jahr muss er dem Betreuungsgericht nachweisen, was er unternommen hat, und die Konten offenlegen, sagt Dörrer. In der Studie des Verbraucherschutz­ministeriums von 2018 steht allerdings: "Von der Möglichkeit, Angaben der Betreuer gegenüber dem Gericht (stichprobenartig) auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, wird nur an wenigen Gerichten routinemäßiger Gebrauch gemacht." Dörrer sagt: "Wie in anderen Berufen auch: Wer betrügen will, findet Wege." Als er Frau Paulsen zum ersten Mal besucht ­habe, hätte er Goldmünzen einstecken können, die offen herumlagen. Die alte Frau übergab sie ihm zu treuen Händen, er brachte sie zur Bank und legte ihr die Belege unter ihre Lupe.

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Das neue Kinder- und Jugendhospiz Bethel in Bielefeld (Foto vom 29.04.2012), das am 2. Mai 2012 offiziell erö†ffnet wird, soll Müttern und Vätern, die zum Teil über Jahre ihre todkranken Kinder zu Hause pflegen, eine "Auszeit" ermö†glichen. Mit einem vorübergehenden Aufenthalt der Kinder im Hospiz werden sie entlastet. Gleichzeitig kö†nnen sie sich mit anderen betroffenen Familien austauschen. Den Kindern und deren Familien steht ein Team aus Krankenschwestern, Sozialpädagogen, einem Arzt sowie einer Seelsorgerin zur Seite. Das Kinderhospiz ist eines der grö†ï¬‚ten Spendenprojekte Bethels der vergangenen Jahre. Der Bausumme in Hö†he von rund 5,2 Millionen Euro sowie der weitere Betrieb werden ausschliefllich aus Spenden finanziert. Die Aufenthaltskosten für die kranken Kinder übernehmen die jeweiligen Kassen. (Siehe epd-Bericht vom 30.04.2012)Reinhard Elbracht/epd-bild

Frau Paulsen wurde tatsächlich schon übel mitgespielt, erzählt Dörrer. Bevor er sie ­kannte, saß sie betrügerischen Pflegekräften auf. Dörrer hat sie angezeigt und vor Gericht gebracht. Er kämpft zwar nicht mehr wie in den 70ern für die große Weltverbesserung, aber im Kleinen dafür, dass die Betreuten zu ihren Rechten kommen. Heute müsse jeder "ein Manager seiner selbst" sein. Wer das nicht könne, zahle drauf.

Wer sich zum Beispiel keinen Steuerberater leisten könne, ­dessen Vermögen werde geschätzt – "wohl nicht zuungunsten des Finanzamtes". Wer sich nicht in Hotlines von Strom- und Telefonanbietern hängen will, müsse im Zweifel den höheren Tarif hinnehmen. "Da werden die Leute im Regen stehengelassen", sagt Dörrer. "Dann springet mir mal wieder ­weiter", sagt er und verabschiedet sich mit Händedruck und einem feinen Lächeln.

Jetzt zoomt und skypt er

Frau Paulsen kommt gut durch die Corona-­Krise, erzählt Dörrer Mitte Mai am Telefon. Weil sie Angst habe, sich zu infizieren, besucht er sie nicht, wenn sie Geld braucht, wirft er es ihr in den Briefkasten. Andere trifft er jetzt manchmal mit Maske und Abstand auf Parkbänken, mit einigen skypt und zoomt er. Für den Vierzigjährigen hat er bei der Krankenkasse Pflegegrad zwei erreicht – das bedeutet mehr Geld. Niko Radek hat gute Chancen, bald wieder in der Werkstatt für psychisch Kranke anzufangen. Und der Brandstifter? Zeige wenig Einsicht und könne nicht nachvollziehen, was Polizei und Psychiater von ihm wollten.

Für Walter Dörrer selbst hat sich viel verändert: Er ist mit seinem Büro von Stuttgart nach Kornwestheim umgezogen. Die Miete ist billiger und er ist schneller zu Hause. "Im Rückblick von fünf Monaten sieht man mal, wie viel man erreichen kann", sagt er. "Wenn man so von Tag zu Tag wurschtelt, fällt einem das nicht auf." Und jetzt springt er schnell weiter.

Infobox

Wer regelt was?

Ist eine volljährige Person dauerhaft nicht in der Lage, ihre Dinge selbst zu regeln, kann das Betreuungsgericht, das beim Amtsgericht angesiedelt ist, einen Betreuer bestellen. Das können Angehörige, Freunde oder sonst ehrenamtlich tätige Personen sein, Betreuungsvereine – oder eben Berufsbetreuer. Bei der Auswahl der Betreuer muss das Gericht die Wünsche der Betroffenen berücksichtigen.
Das Betreuungsgericht arbeitet mit der Betreuungsbehörde beim Sozialamt ­zusammen. Die Betreuungsbehörde holt Gutachten ein und berät das Gericht bei der Frage, ob eine Betreuung erforderlich ist. Außerdem unterstützt sie Angehörige und Betreuungsvereine, prüft Berufs­betreuer auf ihre Eignung und schlägt dem Gericht die Betreuer vor.
Laut der Studie "Qualität in der rechtlichen Betreuung" des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz von 2018 gab es Ende 2015 in Deutschland 602 000 rechtliche Betreuerinnen und Betreuer. Bei den meisten handelte es sich um Menschen, die sich um ihre Ange­hörigen kümmerten, 16 100 waren Berufsbetreuer.
Berufsbetreuer haben die Aufgabe, die ­Betreuten rechtlich zu vertreten, sie können auch in ihrem Namen Prozesse führen. Dabei steht das Wohl der Betreuten an obers­ter Stelle. Die Berufsbetreuer sind dem Betreuungsgericht gegenüber rechenschaftspflichtig über die verwalteten ­Konten und Vermögen. Besondere Rechtsgeschäfte, etwa der Verkauf eines Grundstücks oder im Zusammenhang mit Erbstreitigkeiten, müssen vom Betreuungsgericht genehmigt werden. Ebenso die Kündigung einer Mietwohnung, Kredit­aufnahmen oder besondere Geldanlagen.
Betreute, die unzufrieden mit ihrer ­Betreuung sind, können bei der Betreuungs­behörde und beim Betreuungsgericht ­Beschwerde einlegen.
Walter Dörrer engagiert sich als Regionalvertreter Stuttgart für den Bundesverband freier Berufsbetreuer (BVfB). Daneben gibt es den Bundesverband der Berufsbetreuer und -betreuerinnen (BdB). Dörrer setzt sich unter anderem dafür ein, dass die rechtliche Betreuung zu einem qualifizierten Ausbildungsberuf weiterentwickelt wird mit klaren Standards, Prüfungen und gesetzlicher Zulassung.

Leseempfehlung
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Sehr geehrte Autorinnen,

ich arbeite selbst als rechtlicher Betreuer und habe Ihren Artikel mit Freude gelesen. Es ist der beste Artikel über die Tätigkeit als rechtlicher Betreuer, den ich jemals (aus nicht-Fachkreisen) gelesen habe. Vielen Dank für die umfassende Betrachtung und die ehrliche Darstellung!

Mit freundlichen Grüßen
Christoph Behringer
Betreuungsverein "Humanitas" Wolgast e. V.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
der Artikel "Dörrers Fälle" aus Chrismon 7/8.2920 hat mich sehr gefreut. Endlich ein gut recherchierter Bericht über Betreuungen! Ich arbeite im Amtsgericht und habe mich schon oft über fehlerhafte Berichte geärgert. Hier stimmte alles, sowohl die rechtlichen Voraussetzungen als auch die Ambivalenz zwischen helfen und bevormunden.
Mit freundlichen Grüßen
Susanne Claußen

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Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihren Beitrag "Dörrers Fälle" habe ich mit großem Interesse gelesen. Ich bin ehrenamtlicher Betreuer eines bald 67jährigen Mannes und kann die beschriebenen Erfahrungen überwiegend bestätigen.

Dass im Beitrag "Dörrers Fälle" kein Wort über das Amt des ehrenamtlichen Betreuers zu finden ist, ist für mein Verständnis ein Mangel. Mein Betreuter wünschte sich die ehrenamtliche Betreuung, weil er sich durch den vorher eingesetzten Berufsbetreuer als unzureichend versorgt empfand - dieser Eindruck ist für mich verständlich.

Die Kommunikation mit dem Betreuungsgericht ist gut.

Mit freundlichen Grüßen

Friedrich Bartholomäus

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Liebe Redaktion, es erschließt sich mir nicht, wie ein Berufsbetreuer gleichzeitig 70 "Fälle" (Menschen) betreuen kann. Das wäre nicht einmal bei einem Arbeitstag von 36 Stunden möglich. Ich wurde vom Betreuungsgericht vor 5 Jahren ebenfalls als gesetzlicher Betreuer für meinen Bruder nach einem Schlaganfall eingesetzt. Außer Aufwandsentschädigung für Fahrten habe ich keinerlei Entgelte für meine Tätigkeit erhalten. Pro Jahr leistete ich etwa 1.100 -1.200 Arbeitsstunden unentgeltlich und gerne. Mein Aufgabenspektrum unterscheidet sich kaum von dem im geschilderten Beitrag von Herrn Dörres. Mich erstaunt schon sehr, wie Herr Dörres 70 Menschen ordnungsgemäß betreuen kann. Nach meinen eigenen Erfahrungen müßte sein monatliches Arbeitspensum zwischen 300 - 400 Stunden betragen. Die finanzielle Seite scheint hier wohl Priorität zu haben. Bei angenommenen 300,00 € (durchschnittlich) als Pauschale pro Betreuungsfall ließen sich deutlich über 20.000,00 € pro Monat erzielen. Hier im Land Brandenburg stand vor Jahren ein Berufsbetreuer (auch mit etwa 70 Betreuungsfällen) wegen krimineller Machenschaften vor Gericht. Dabei schätzte das Gericht ein, daß eine Übernahme von 70 Betreuungsfällen durch einzigen Berufsbetreuer unrealistisch und deshalb sehr problematisch ist. Ich möchte Herrn Dörres an dieser Stelle nichts unterstellen und habe hohen Respekt vor der Tätigkeit jedes Betreuers. Jedoch wirft der o. a. Beitrag schon einige Fragen auf.

Antwort auf von Dr. Dietrich G… (nicht registriert)

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Sehr geehrter Herr Dr. Dietrich Ge...,

leider kann ich Ihren Namen nicht vollständig schreiben, da Sie Ihren Beitrag ohne Gruß und Nennung des Autors abgefasst haben. Außerdem - der Grundtext lautet: Dörrers Fälle; der Name des beschriebenen Berufsbetreuers sollte korrekt geschrieben werden.

Wie in "Dörrers Fälle" zu lesen ist, ist für Herrn Dörrer pro betreuter Person zum jeweiligen Zeitpunkt ein unterschiedlich großer Aufwand an Zeit und Einsatz erforderlich. Deshalb halte ich es für vertretbar, dass Herr Dörrer viele Fälle parallel bearbeitet.

Ihre angenommenen 300 € als monatliches Durchschnittsverdienst sind zu kritisieren, da die Vergütung je Fall zwischen monatlich 102 € und 486 € variiert und die überwiegende Anzahl der Fälle eher niedrig vergütet sein dürften.

Ihre Vermutung, für Herrn Dörrer habe die finanzielle Seite seiner Tätigkeit wohl Priorität, ist eine reine Unterstellung und deshalb abzulehnen.

Die Motivation zu meiner ehrenamtlichen Betreuung (nur) eines Mannes findet sich bei dem Propheten Micha (Kapitel 6, Vers 8) und gründet auf Demut und Nächstenliebe. Das Angebot einer Tasse Kaffee würde ich deshalb - anders als Herr Dörrer - annehmen.

Mit freundlichen Grüßen

Friedrich Bartholomäus

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Sehr geehrte Redaktion,
den Artikel fand ich gut recherchiert, aufklärend und einfühlsam. Leider wurde durch die Bemerkung der Autorin zum Schluß (unter der fotoähnlichen Darstellung) dieser Eindruck wieder zunichte gemacht. Sie sollte vielleicht lustig sein und die vorherige Schwere auflockern, welche das Geschilderte zu Recht auch mit sich brachte. Auf mich wirkte sie nachgerade zynisch. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Kornacher

Antwort auf von Ulrike Kornacher (nicht registriert)

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Sehr geehrte Frau Kornacher,

leider verstehe ich nicht, was Sie mit der "Bemerkung" zum Schluss (unter der fotoähnlichen Darstellung) meinen. Wollen Sie sich zu dieser "Bemerkung" inhaltlich äußern?

Mit freundlichen Grüßen

Friedrich Bartholomäus