Claus Fussek, der "Pflegepapst", vor 50 000 Hilferufen von Alten, Kranken und ihren Helfern
Claus Fussek, der "Pflegepapst", vor 50 000 Hilferufen von Alten, Kranken und ihren Helfern
Sebastian Arlt
"Wehrt euch endlich!"
Über dreißig Jahre deckte Claus Fussek, der bekannteste Pflegekritiker Deutschlands, Missstände der Branche auf und kämpfte gegen das System. Dabei verlor er die Leidtragenden, die Menschen, nie aus den Augen. Was hat er in all den Jahren erreicht?
Esther NiederhammerPrivat
17.01.2018

Münchner Klenzestraße, zweiter Hinterhof. VIF steht auf dem Schild, Vereinigung Integrationsförderung, ein langer Name, eine noch längere Geschichte. Ein gerader Flur, die dritte Türe links führt zu ihm, kein Namensschild, man muss wissen, wo er sitzt. Oder man hört Satzfetzen wie "Aufstand der Anständigen" oder "Alle wissen Bescheid". Dann ist man richtig, dann hat man Claus Fussek gefunden.

Ein Fernsehteam hat sich angemeldet. Fussek kommt in einem karierten Hemd, Jeans und Sportschuhen ins Büro. Aus seinem schwarzen Rucksack quellen Ausdrucke von Hilferufen, Beschwerden, Selbstanzeigen. Während der Kameramann das Stativ aufbaut, heftet Fussek Papiere ab. Kein Blick in den Spiegel, keine Nervosität. Man kennt sich.

Fussek fragt: "Was war heute das Thema?" Alle lachen. Claus Fussek ist Deutschlands bekanntester Pflegekri­tiker. Es geht immer um dasselbe, seit mehr als 30 Jahren. "Pflegepapst", "Engel der Alten" oder "Beichtvater in der Altenpflege" wurde er schon genannt. Fussek verzieht bei solchen Zuschreibungen das Gesicht. Er ist Sozialarbeiter, Schwerpunkt Pflege.

"Es ist alles gesagt"

Ein kriminelles Netzwerk ist aufgeflogen, Pflegedienste haben Leistungen falsch abgerechnet, mindestens eine Milliarde Euro Schaden, 300 Verdächtige bundesweit. Und Fussek gibt Interviews im Halbstundentakt. Ist er überrascht über das Ausmaß des Betrugs? "Mich überrascht nichts mehr. Das ist ein geschlossenes, kriminelles System. Unser Pflegesystem liegt im Koma. Das wissen wir seit Jahren. Wir brauchen einen Aufstand der An­ständigen. Alle wissen Bescheid. Alle schweigen."

Fussek sagt seit Jahrzehnten dasselbe: bei Vorträgen, auf Podien, im Fernsehen, im Radio, im Bundestag, bei Amnesty International, bei der UN in Genf. Er kann sich selbst nicht mehr hören. In Talkshows geht er nicht mehr. Früher war er bei Biolek, Kerner, Maischberger, Chris­tiansen, Illner, Will, Plasberg, Beckmann und bei Fliege gleich drei Mal. Fussek sagt: "Es ist alles gesagt."

Richtig los ging es 1997 mit einer Pressekonferenz in ­München: ein Pflegeskandal. Es wurden die schlimmsten Jahre für ihn und seine Familie. Auch für die Pflege­branche, denn Fussek verschob seinen Schwerpunkt von der Behinderten- und Integrationsarbeit auf Alten- und Pflegeheime und wurde zum Dauerkritiker der Branche.

Viele sind froh, wenn sie Fussek nicht sehen, ihn und seinen Rucksack. Es sind gefährliche Papiere darin. Sie nennen Namen und Orte, sie belegen, wie Demenz­patienten ruhiggestellt und Menschen per Magensonde ernährt werden, obwohl sie selbst essen könnten. Fussek zeigt Fotos, mit faustgroßen Wunden, Dekubitus Grad vier: ein Geschwür bis zum Knochen mit abgestorbenem und verwestem Gewebe. Oder er hält eine große Windel in die Höhe. "3,8 Liter passen da rein!" Er spricht von Folter in Deutschland, fordert seine Zuhörer auf, als geistig wacher Mensch nur einen Tag in so einer Windel zu verbringen und nicht zur Toilette zu gehen, nur um zu wissen, wie sich das anfühlt. 

Zwei Pflegekräfte für 80 Menschen

Der Fussek schon wieder, kommt selbst nicht aus der Pflege, weiß aber alles besser. Panikmache. Nestbe­schmutzer. Er musste sich viel anhören, vor allem von Pflegekräften und Heimleitern. Sie werfen ihm vor, dass er parteiisch sei. Was sie nicht laut sagen, wohl aber hinter vorgehaltener Hand: dass ihre Arbeit oft nur mit Magensonden und Windeln überhaupt zu schaffen ist, vor allem im Nachtdienst, wenn zwei Pflegekräfte für 80 Menschen da sind. Fussek meint: "Das sagt doch alles."

2006 hielt Fussek seine eigene Todesanzeige in den ­Händen. Darauf stand, ein großer Wichtigtuer sei ge­storben, die Welt sei reicher ohne ihn, unterzeichnet in Liebe und stiller Trauer von den Dissidenten und allen Angehörigen. Die Anzeige sei nur deshalb nicht gedruckt worden, da der Redakteur Kontakt aufnahm, sagt Fussek.

Sein Rucksack ist immer dabei, obwohl er ihn nicht braucht. Fussek kann alles auswendig, er kostet Nerven, hört nicht freiwillig wieder auf. Außer der TSV 1860 München spielt, dann geht er ins Stadion. Ob man sie mal anfassen will, seine Dauerkarte? Nordkurve, dort trifft er sich mit seinen Söhnen. Doch Entspannung ist das nicht, sagt Fussek, die Löwen sind längst auch ein Pflegefall.

Er arbeitet ohne Pause

In Fusseks Büro dringt Baustellenlärm, die Regale sind voller Aktenordner, über dem Schreibtisch hängen Plakate: "Mängel bei jeder zweiten Pflegekontrolle" oder "Wehrt euch endlich" steht darauf. Schreibtisch und ­Fens­terbank sind vollgestapelt, mittags eine Banane, wenn Zeit ist noch ein Filterkaffee im Café am Straßeneck. Kaum zurück, geht es weiter. Auf dem Schreibtisch liegen schon Zettel mit Bitte um Rückruf. Das Telefon klingelt.

"Sie sind meine letzte Hoffnung." Fussek setzt ­­sein Headset auf. Konzentriert macht er Notizen, 
stützt die Ellbogen auf Aktenberge. Ihm ­kommen noch immer die Tränen, wenn einfachste Bedürfnisse ignoriert werden: Essen, Trinken, frische Luft, Ausscheiden, Zuwendung, eine Sitzwache beim Sterben. Kürzlich fragte eine Frau: "Wie häufig darf mein Mann im Pflegeheim zur Toilette?" Fussek sieht verzweifelt aus. "So häufig wie nötig. Das ist ein Menschenrecht. Ich war heute schon fünf Mal pinkeln und es ist erst elf."

Er kramt einen Zettel heraus, zeigt auf die Überschrift. Da steht es, es ist schon gesagt. 2002 hat Fussek "Mindest­anforderungen für die Pflege alter und hilfsbedürftiger Menschen" formuliert, mit vielen Großbuchstaben und Ausrufungszeichen: "JEDER pflegebedürftige Mensch muss TÄGLICH so oft zur Toilette gebracht oder geführt werden, wie er es wünscht! (Windeln und Dauerkatheder als pflegeerleichternde Maßnahmen sind unwürdig.)" So etwas sollte selbstverständlich sein. Aber die Realität sieht oft anders aus. Mehr als 50 000 Hilferufe hat Fussek gesammelt. Die Verantwortlichen wollen das nicht hören. Sie sprechen von einzelnen schwarzen Schafen, es gebe 
keinen Beweis für ein systemisches Versagen in der Pflege. 
Das wiederum mag Fussek nicht mehr hören.

Esther NiederhammerPrivat

Esther Niederhammer

Esther Niederhammer hat als freie Journalistin schon viele Begrüßungen gehört, aber noch nie "Da ist ja die Klette!". Sie begleitete Claus Fussek gleich fünf statt der vereinbarten drei Tage – nicht nur wegen des Abrechnungsskandals in der Pflegebranche.

Die Medaille des Bezirks Oberbayern? Gab Fussek zurück. Weil sich die Bedingungen in der Pflege nicht ­ändern. Andere Preise muss er erst suchen. Der Fairnesspreis steht im Büro. Den für Zivilcourage und das Bundesverdienstkreuz hat er zu Hause. Fussek schaut in Schub­laden und Schränken und findet weitere Auszeichnungen.

Manchmal fragt er sich, was er in all den Jahren erreicht hat. Ob überhaupt etwas. Er hat vier Bücher mitgeschrieben, 
vielen Menschen geholfen. Und doch spricht er von einer Analyse des Scheiterns, nimmt mit 64 Jahren erstmals Supervision in Anspruch für eine persönliche Bilanz. Schlagzeilen und Zeitungsartikel der 80er und 90er Jahre könnten seiner Meinung nach unverändert abgedruckt werden. Er schlägt manchmal Journalisten vor, seine Antwort aus dem Archiv zu holen. "Es ist alles gesagt."

Seit Jahrzehnten sagt Fussek das Gleiche

Ein Blättern durch seine Ordner. "Wir dürfen nicht länger schweigen" steht über einem Artikel von 1995, im Magazin "Altenpflege". Ein zweiter Blick in aktuelle Presseberichte und Fusseks E-Mails belegen: identische Schlagzeilen, die gleiche Verzweiflung. Nur eine Sache hat sich geändert. Zwei Drittel der Anrufer sind jetzt Pflegekräfte. Früher standen die Kritiker hier, die Pflegebranche da. Fussek zeigt nach links, dann nach rechts. Mit acht Stunden Bürozeit kommt Fussek nicht aus, zu Hause geht er oft geradeaus durch und fährt den Rechner hoch. "Einmal Löwe, immer Löwe" steht auf der Tür, und drinnen wieder Ordner, auf deren bunten Rücken steht: Mangel­ernährung, Fixierungen, Gewalt in der Pflege. Fussek sitzt zwischen seinen Materialbergen, gräbt aus kinnhohen ­Stapeln das aus, was er braucht. Er selbst wirkt klein.

Etwa drei Mal pro Woche zieht er abends Laufschuhe an. Heute sitzt er in seinem Garten. Abschalten kann er auch hier nicht. Also beantwortet er E-Mails. Wie hält man das aus? Das weiß Fussek auch nicht. Er spricht von Menschen und Schicksalen statt von "Fällen". Er will jede einzelne Mail beantworten. Ute Krause-Fussek ist das gewöhnt. Sie kennt ihren Mann seit 42 Jahren und musste ihn schon im Büro abholen, um den Urlaub antreten zu können.

Weil ihm vorgeworfen wurde, die Pflegebranche pauschal in den Schmutz zu ziehen, begann Fussek, auf vorbildliche Heime zu verweisen, auf Häuser ohne Personalsorgen, die schwarze Zahlen schreiben. Wieder wollte das keiner hören. Selbst am Münchner Pflegestammtisch nicht, den er 2002 mit einer Kollegin gegründet hatte und der ­lange über hundert Menschen aus Pflege, Politik und allen ­Berufs- und Gesellschaftsgruppen zusammenbrachte. ­Der Stammtisch wurde 2010 wieder aufgelöst.

Überall wird Fussek angesprochen: im Café, im ICE, auf Raststätten, sogar in Brixen, in Südtirol. Die meisten Menschen sorgen sich um einen Angehörigen oder möchten sich bedanken. Dafür, dass er zuhört, dass er nicht aufgibt – und dass er ihnen glaubt. In besonders drastischen Fällen schaltet er die Presse, den Medizinischen Dienst der Krankenkassen oder die Polizei ein, um unange­meldete Kontrollen in bestimmten Heimen zu veran­lassen. Dann sind die Betroffenen entsetzt. Aber nicht, weil es unmenschliche Zustände in ihrem Haus gibt, sondern weil sie "den Fussek" und die Presse am Hals haben. Das ­schadet dem Ruf und bringt finanzielle Einbrüche.

Fussek kann sich nicht einfach schlafen legen

Fussek wünscht sich mehr Menschen, die nicht weg­sehen, wenn sie in ihrem Umfeld Missstände oder un­würdige Behandlung von alten Menschen sehen. Außerdem Ärzte, Pflegekräfte oder Betreuer, die betrügerische und gefährliche Zustände bekanntmachen und Strafanzeige stellen. Aus ihrem Berufsethos heraus. Dass das so selten geschieht, kann er nicht verstehen.

Es ist Abend. Der solarbetriebene Sechziger-Fan auf der Fensterbank schwenkt müde seinen Schal. Auch Fussek sieht erschöpft aus. Er sagt, er sei selbst schuld, er könnte ja früher ins Bett gehen, andere täten das auch. Doch Fussek kann sich nicht einfach schlafen legen.

Am ersten September 2018: Münchner Klenzestraße, zweiter Hinterhof. VIF steht dann noch immer auf dem Schild, Vereinigung Integrationsförderung. Ein langer Name, eine noch längere Geschichte, ein gerader Flur, die dritte Türe links schließt, Claus Fussek geht in Rente. ­
Ein Nachfolger? Ist nicht in Sicht. "Aber es ist ja alles gesagt." Fussek wird seinen Rucksack nehmen und nach Hause gehen. Und er wird weiter zuhören und weiter ­sagen, was schon gesagt ist. 

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Update:

Die Nachricht, dass der Pflegekritiker Claus Fussek zum September 2018 in den Ruhestand geht, hat einige Aufregung verursacht. Und bei seinen Gegnern auch Freude ausgelöst. Eine Nachfrage bei Fussek hat nun ergeben: Es gibt ihn nicht, den Rentner Claus Fussek. Der Pflegekritiker hat seine Ruhestandspläne (Stand November 2018) verschoben und seinen Vertrag mit der VIF auf vorerst unbestimmte Zeit verlängert. Für die Autorin des Porträts ist das keine allzu große Überraschung. Fussek ist ein leidenschaftlicher Mensch, und seine Mission ist noch nicht erfüllt. Die Forderung nach einer menschenwürdigen Pflege dürfte noch über viele Jahre mit Claus Fusseks Stimme verknüpft sein.

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Wahnsinn, so jemand gibt es in Deutschland ? Jemand, der nicht müde wird, Missstände anzuprangern ? !
Jemand, dem man vertraut ? Jemand, der nicht, irgendwann, letztlich doch nur auf sich selbst setzt ? Jemand, der nicht müde und überdrüssig wird ? Das lässt Hoffnung wachsen.
Alles Gute für Claus Fussek.

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Sehr geehrte Damen und Herren. Hoffe Hr. Fussek kann das lesen. Mit großem Bedauern las ich gerade das Sie ab September in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen. Bewundere ihren Mut und ihre Arbeit. Würde mir wünschen , Ideen was wie ich versuchen kann die Misstände in der Pflege zu verbessern. Bin Fachkraft für Psychiatrie. Arbeite seit 1998 in der Pflege. Augustinus Kliniken Neuss . Sende ganz herzliche Grüße. Karoline Link

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Sehr geehrte Damen und Herren,
ich arbeite seit 18 Jahren im Krankenhaus. Als Personalleiterin, in enger Zusammenarbeit mit der Pflegedienstleitung oder gar deren Vertretung für längere Phasen und als dauerhafte Stellvertretende Verwaltungsdirektorin. Wir versuçhen seit Jahren die Personalkosten als den größten Kostenanteil des Krankenhauses, durch Outsourcing von pflegefernen Bereichen, Trennung von unrentablen Bereichen etc., im Griff zu behalten.
Aber genau da liegt das Problem. Es geht um Rentabilität. Seit Krankhäuser privatisiert worden sind, ist die Rentabilität eines Hauses in den Fokus gerutscht.
Der Staat hat seinen Auftrag gegenüber der Bevölkerung an private Investoren abgegeben.
Die Refinanzierung von Tariferhöhungen ist verschlechtert worden. Ein DRG System und Mindestmengen eingeführt worden. All das hat zu einer Veränderung der Ansiedlung und dem teilweise extremen Ausbau bestimmter Fachrichtungen in den Krankenhäusern geführt. Durch den Ärztemangel sind die Vergütungen der Ärzte inzwischen extrem galoppierend gestiegen. Dieses Ergebnis haben wir inzwischen auch bei Fachkrankenpflegern. Das bedeutet eine Tarifsystematik ist komplett ausgehebelt und Krankenhäuser zahlen inzwischen überproportional Personalkosten im Ärztlichen sowie in den Bereichen der Funktionsdienste.
Förderprogramme durch die Bundesregierung zur Stärkung der Pflege werden daher nach meiner Meinung ohne nennenswerte Auswirkung bleiben. Was wir brauchen ist eine Abkehr aus der Privatwirtschaft. Eine völlige Reformation des Krankassensystems und der Krankenhäuser. Wir halten für 5% Leistungsunterschiede zwischen den Kassen (95% sind Pflichteistungen des SGB) ein unterschiedliches Kassensystem aufrecht und deren Verwaltungsaparrate.
Eine gesetzliche Krankenkasse reicht und zwar mit geballten Kenntnissen in Richtung SGB etc. und dann eine Abkehr der Krankenhäuser aus der Privatwirtschaft. Das wäre ein nachhaltiger Beitrag für das Gemeinwohl aller Menschen und nicht für einzelne private Investoren.
Mit freundlichen Grüßen Cornelia Lindow