Religionsunterricht wird in Über­einstimmung mit den Religions­gemeinschaften erteilt, fordert das Grundgesetz. In den meisten Bundesländern trennt man daher die ­Schüler nach Konfession. Nicht so in Hamburg. Gemischt-konfessioneller Unterricht wie der von Andreas Gloy in Wilhelmsburg gilt dort als Erfolgsmodell
Hedwig Gafga, Autorin
23.10.2012

Adityas Skulptur ist so hoch wie eine kleine Colaflasche – eine menschliche Figur, die im Lotussitz auf einem Zwerg thront, vielleicht ist es auch ein Kind. In einer Hand hält sie eine Swastika, ein Hakenkreuz, groß wie eine Centmünze. Der Schüler mit Dreadlockmütze hat sie mitgebracht – für den Altar im Religionsraum. Seine Mutter hat zu Hause religiöse Gegenstände wie diese aufgestellt. Aditya erklärt die Skulptur seinen Mitschülern. „Der Gott sitzt im Himalaya, und aus seinem Kopf quillt Wasser, das einen indischen See speist. Und der Zwerg symbolisiert das Böse, das der Gott in Schach hält.“

Religionsunterricht im Hamburger Gymnasium Kirchdorf-Wilhelmsburg in der Jahrgangsstufe 9. Christliche, muslimische, jüdische und hinduistische Schüler lernen hier wie immer ­gemeinsam. In anderen Bundesländern erleben Schüler so einen gemischtkonfessionellen Religionsunterricht während ihrer ganzen Schulzeit nicht ein einziges Mal.

Artikel 7 des Deutschen Grundgesetzes sieht vor, dass „der ­Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird. Meist wird daraus gefolgert, jede Konfession müsse für ihren eigenen Unterricht ­sorgen: Katholiken für den katholischen und Protestanten für den evangelischen Religionsunterricht. In Wilhelmsburg, einem Stadtteil mit vielen Einwanderern, müssten nach dieser Logik Muslime und Christen in getrennten Räumen sitzen, mit unterschiedlichen Religionslehrern.

Der Gott kommt auf den Altar

Ein Junge entdeckt das Hakenkreuz. Er fragt, was es zu bedeuten habe. Sein Mitschüler Alex sagt, er kenne das Hakenkreuz aus Bali, wo es ein uraltes Zeichen sei, für Balinesen positiv besetzt. „Das Symbol gab es lange vor den Nationalsozialisten“, sagt ­Lehrer Andreas Gloy, „sie haben es aus der Religion geklaut und für ihre Zwecke benutzt.“ Schließlich stellt Aditya die Figur auf einen der Altäre – zu den Kirchen aus Pappe, dem siebenarmigen Leuchter, dem Schofarhorn, den Buddhafiguren, Gebetsketten und heiligen Schriften. „Altäre“, so nennt Andreas Gloy die Tische mit den religiösen Gegenständen.

Die Schüler haben die Wände des ­Wilhelmsburger Religionsraums mit hebräischen, arabischen und griechischen Worten und Versen beschrieben. An der Fensterfront leuchtet ein in Glasfarben gemaltes Bild: Fünf ­kleine Ringe für Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, von dort führen Linien zu einem hellen Zentrum hin. Das Bild sei in einer Klasse während der Arbeit an Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel entstanden, sagt Gloy.

In Hamburg hat der gemeinsame Religionsunterricht bereits Tradition. Die katholische Kirche hatte nach 1945 auf ein eigenes Schulfach verzichtet und eigene Schulen gegründet. Religionspädagogen des Hamburger Pädagogisch-Theologischen Instituts machten aus der Not eine Tugend und entwickelten einen interkonfessionellen Unterricht in evangelischer Verantwortung: den „Religionsunterricht für alle“. Nicht die eigene Konfession steht im Mittelpunkt, sondern der interreligiöse Dialog. Die Schüler sollen sich nicht zuerst einen eigenen Standpunkt aneignen, ­bevor sie Schülern anderer Konfessionen gegenübertreten. ­Sondern sie lernen die eigene und fremde Religionen kennen – und erfahren gleichzeitig auch viel über sich selbst.

"Im Koran ist alles wahr!" - Sind damit alle anderen Religionen falsch?

Heute sollen sich die Wilhelmsburger Schüler selbst über ihren Glauben interviewen, sich Fragen ausdenken und sie auch beantworten. „Warum glaubst du an Gott?“, notiert eine christliche Schülerin ghanaischer Herkunft und antwortet. „Ich kann ihm alles erzählen.“ Und weiter: „Aber wer sagt, dass Gott ein Er ist? – Er ist ein Jemand, eine Person, die immer für mich da ist. – Respektierst du andere Religionen? – Auf jeden Fall. Für mich sind alle Menschen gleich.“
Atheismus ist in dieser Klasse out. Nur ein Schüler sagt von sich, dass er keiner Religionsgemeinschaft angehöre. Er glaube aber an Gott. Mehrere muslimische Schüler sagen, dass ihnen die Partnerarbeit am besten gefalle, die Chance, „etwas von den Christlichen zu hören, wie sie ihren Glauben deuten“.

Andreas Gloy, der Religionslehrer in Wilhelmsburg, ist trotz grauer Strähnen eine jugendliche Erscheinung, groß, schmal, in Baumwolljacke und Jeans. „Wenn ein Lehrer sagt, das Christentum oder der Islam sei der einzige Weg, dann dürfte es ihm schwerfallen, bei uns zu arbeiten“, sagt er. Fähigkeit zum Dialog, die will er seinen Schülern beibringen.
Tatsächlich sprechen alle Jugendlichen von sich aus ihr Verhältnis zu anderen Religionen an. Kein Zufall: Schüler anderer Religionen sind ja immer im Unterricht mit dabei. Eine Schülerin mit Kopftuch und knöchellangem Kleid schreibt bei der Selbstbefragung von einem inneren Konflikt: „Was können Sie mir über den Islam erzählen?“, fragt sie sich und antwortet: Sie glaube, dass alles, was der Koran sagt, wahr sei und man die Gebote befolgen solle. „Also antworten Sie, dass die anderen Religionen falsch sind? – Nein, das habe ich nie gesagt.“

„Wieso trägst du ein Kopftuch?“

„Wieso trägst du ein Kopftuch?“, greift eine Schülerin ihre Mitschülerin an, „das kannst du doch gleich ausziehen!“ – „Wenn du dich nicht an die islamischen Regeln halten willst, dann wechsle doch die Religion!“, gibt die erregt zurück. – „Ist eine Frau, die kein Kopftuch trägt, eine schlechtere Muslima?“ Die beiden wollen ihren Streit versöhnlich abschließen. Die eine erinnert daran, dass sie eine Frage nicht beantworten müsse, wenn sie nicht wolle. Und das Mädchen mit Kopftuch räumt ein, dass eine Diskussion über das Kopftuch erlaubt sein sollte.

Die Schüler müssen sich ­Fragen wie diesen stellen, findet Religionslehrer Andreas Gloy. Sie würden später damit auch woanders konfrontiert. „Neugierig, wertschätzend und tolerant“, so sollen sie sich auf die Sache mit der Religion einlassen.

Im August 2012 schloss der Bürgermeister der Stadt Hamburg ­einen Vertrag mit den muslimischen und alevitischen Verbänden. Die Zustimmung des Senats steht noch aus. Die Mus­lime werden ermuntert, eigene Religionslehrer zu stellen (siehe Kasten). Ob sie dann weiterhin gemeinsamen Unterricht wünschen oder nach Konfessionen trennen wollen, wird nicht zuletzt von Leuten wie Imen Jelassi, 21, abhängen. Sie ist Psycholo­giestudentin mit Kopftuch, Jeans und weißer Bluse, und beobachtet Gloys Unterricht. Früher war sie seine Schülerin.

Überzeugungen diskutieren, die sonst niemand hinterfragt

Imen Jelassi gefällt Gloys Re­ligionsunterricht. Hier würden Überzeugungen diskutiert, die sonst niemand hinterfragen würde. Diesem Schulfach verdanke sie viel für ihre persönliche Entwicklung. Eine Stunde ist Imen Jelassi besonders im Gedächtnis geblieben, es ging um die Attentate vom 11. September 2001. „Herr Gloy hat uns gefragt, wie wir uns das alles erklären, die Zerstörung so vieler Menschenleben. Meine Erklärung war: So etwas ist Schicksal. Unser Leben und Sterben ist von Gott vorherbestimmt und nicht zu ändern. Durch unsere Diskussion habe ich gemerkt, dass man ein solches Geschehen nicht so leichtfertig begründen kann.“ Mit religiösen Deutungsmustern eine Gewalttat kleinreden – im Rückblick könne sie sich kaum mehr vor­stellen, einmal so gedacht zu haben.

„Wie würdet ihr’s finden, wenn ein Muslim zum Christentum konvertiert?“, liest ein Jugendlicher aus afghanischer Familie zwei Mitschülern aus seinem Selbstinterview vor – und dann seine Antwort: „Mach das, dann kommst du in die Hölle.“ – „Glaubst du das wirklich?“, fragt ihn sein Gegenüber.

Imen Jelassi, die Psychologiestudentin, hat dem Wortwechsel zugehört. „Was halten Sie denn von einem Übertritt?“, wollen die Schüler wissen. Die Antwort der Muslima, die einige von ihnen aus der Schule und ihrem Stadtteil kennen, verblüfft die Schüler: Sie habe das Christentum als wunderbare Religion kennengelernt. Wenn jemand sich dafür entscheide, finde sie das nur gut. Von einer Muslima hatten die Jungen diese Antwort nicht erwartet.

"Mein Kopftuch signalisiert: Ich bin nicht neutral"

Dennoch fehlt Imen Jelassi in diesem Unterricht etwas. „Du musst mehr arbeiten, um das Vertrauen der muslimischen Schüler zu gewinnen“, sagt sie ihrem früheren Lehrer. Muslimische Schüler dächten leicht: „Der Lehrer weiß viel. Aber kann er meine Situation wirklich nachvollziehen?“ Imen Jelassi spricht vom Zwiespalt mancher muslimischer Jugendlicher: „Zu Hause eine Welt, und draußen eine Welt.“ Herr Gloy, der Protes­tant, verhalte sich den Schülern gegenüber, egal zu welcher Religion sie gehören, neutral. „Mein Kopftuch sagt ihnen definitiv, dass ich nicht neutral bin.“

Deshalb hofft Imen Jelassi, dass bald auch Muslime Religion lehren, wie es der Vertrag der Stadt mit den Muslimen und Aleviten vorsieht. Sie hätte sich in ihrer Schulzeit wenigstens ­einige muslimische Lehrer als Vorbilder gewünscht. Noch besser wäre es aus ihrer Sicht, wenn sich künftig zwei Lehrer in einer Klasse abwechseln: zum Beispiel ein Christ und ein Muslim.

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Nach dem Lehrplan der Waldorfschulen wird in der 12.Klasse im grundsätzlich verbindlichen Religionsunterricht über die Weltreligionen unterrichtet. Und die Dortmunder Rudolf-Steiner-Schule unterrichtet in der Oberstufee interkonfessionell. Die Konfessionen sind auch Inhalt des Religionsunterrichtes in der 11. Klasse. In der Vorbereitungsklasse zum Abitur ist der Religionsunterricht freiwillig.

Ich unterrichte Religion an einem Berufskolleg. In den gemischt-religiösen Gruppen entstehen die spannendsten Diskussionen. Warum macht ihr das so? Was bedeutet das für euch? usw. Wenn SchülerInnen einander ihren Glauben erklären ist das authentischer als wenn die evangelische Lehrerin über den Islam spricht. Ich bin für gemeinsamen RU - Trennung gibt es in unserer Gesellschaft schon genug!

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Religionsunterricht wird in der Regel aus der bekennenden Warte einer Lehrkraft erteilt, die der betreffenden Religionsgemeinschaft angehört. Religionsunterricht kann folglich nicht von einem neutralen Standpunkt aus erteilt werden. Bei der Religions"kunde" oder auch dem Ethikunterricht hingegen haben Lehrer ihre eigenen Bekenntnisse oder Überzeugungen ganz nach hinten zu stellen und lediglich "vergleichende" Kenntnisse über verschiedene Religionen und deren Glaubenslehren zu vermitteln.

In dem oben genannten Beispiel kann es sich folglich nicht um Religionsunterricht handeln. Nachdem weder die Schüler/innen noch die Lehrer/innen "neutral" sind, kann es sich meiner Meinung nach auch nicht um Ethik-Unterricht handeln. Denn Ethik befasst sich mit Philosophischen Fragestellungen als auch soziologischen Fragestellungen.

Meiner Meinung nach ist es auch kein "Religionsraum" sondern eher ein Beicht Raum wo alles verborgene nach außen gekehrt wird und wo über verschiedene Sünden diskutiert werden kann. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen können nur Behauptungen sein.

Ein neues Gedankengebäude entsteht. Ob diese Variante nun ein Erfolgsmodell ist, wird einfach mal behauptet. Jedoch - Beim Argumentieren wird eine Behauptung üblicherweise begründet und die Gegenposition liefert Einwand.

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Gedankengebäude oder nicht, die Schüler werden zum selbständigen Denken angeleitet, das ist das Wesentlichste überhaupt. Je früher , desto besser, auch wenn sie vielleicht noch die eine oder andere Lehrermeinung übernehmen sollten ! Neutrale Wissensvermittlung über Religion führt zu nichts, d.h. sie lehrt junge Menschen gar nichts, und lässt sie allein. An Ihrer gequälten Argumentation sind erlittene Schäden zu ersehen, aber sie zeigen, dass Sie selbst, nie in der Lage waren, sich eine eigenen Meinung zu bilden. Diese Schüler dagegen, werden dazu in der Lage sein. Kümmern Sie sich also um sich selbst, und lernen Sie, selbständig zu denken. Das ist das Mindeste, was Sie tun können, um die neuen Wege, mit zu begleiten. Junge Menschen brauchen nicht einfach nur neutrale Wissensvermittlung, sondern die Möglichkeit, sich frei zu äußern. und einen Bezugsrahmen, den es zu Hause nicht gab, bzw. den sie zu Hause nicht nutzten. Wichtig sind Eltern, die mitmachen und mitdiskutieren, wozu auch offene Kritik gehört, wie die Ihre, und die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Dann kann eigentlich nichts schief gehen.