Christina Lux
Zuhören ist manchmal die beste Medizin, hat Anne-Bettina Crayen, 54, festgestellt. Manche Patienten weinen bei ihr. Aber sie hat auch leichte Tage - wo es nur um Schnupfen und Husten geht.
15.08.2011

Manchmal wache ich nachts auf und kann nicht mehr einschlafen. Dann setze ich mich an den Schreibtisch und gehe noch mal alle Unterlagen durch: Habe ich mich auch nicht verrechnet? Habe ich alle Ausgaben bedacht? Oder muss ich die ­Praxis am Ende wieder zumachen, weil ich mir zu viel Zeit für die Patienten nehme?

Als ich meine Stelle in der Klinik kündigte, fragte mein Chef besorgt, ob ich mir das auch gut überlegt hätte. Wo ich doch so schwer Nein sagen könne. „Sie werden versuchen, Heil über das ganze Dorf zu bringen, und sich dabei verlieren.“ Ganz unrecht hatte er nicht. Bei meiner Arbeit in der Fachklinik für Essstörungen ist mir das Leid der Patienten immer sehr nahegegangen. All die abgemagerten jungen Frauen mit ihren ver­letzten Seelen. Manchmal dachte ich, wie herrlich muss es sein, einmal nur Erkältungen oder Beinbrüche zu behandeln!

Der Verdienst? Keinesfalls super

Und dann ergab es sich, dass der Allgemeinarzt in unserem Dorf in Rente ging und mich fragte, ob ich seine Praxis über­nehmen wolle. Erst dachte ich: Bloß nicht, das ist zu viel Verantwortung und Bürokram! Aber die Vorstellung, noch einmal etwas ganz Neues anzufangen, gefiel mir. Ich sah mir die Abrechnungen der letzten drei Jahre an. Da konnte ich schon sehen, dass ich als Hausärztin nicht super verdienen würde. Es gibt für jeden Patienten eine Fallpauschale, die liegt bei rund 30 Euro, bei chronisch Kranken sind es 17,30 Euro mehr. Das kann ich nur einmal im Quartal abrechnen, egal wie oft der Patient bei mir war.

Aber das Geld war für mich nicht ausschlaggebend. Haupt­sache, ich kann unser Haus behalten, und es reicht für mich und meinen jüngsten Sohn. Ich habe sieben Kinder, sechs sind schon erwachsen. Als ich mit Anfang dreißig alleinerziehend mit zunächst fünf Kindern war, kümmerte ich mich tags um die Kinder, nachts arbeitete ich im Notdienst. Da habe ich viel gelernt. Vor allem einen klaren Blick zu behalten und schnell Entscheidungen zu treffen. Das hat mir auch Mut verliehen.

Also übernahm ich die Praxis. Da die Miete zu teuer war, ­zogen wir um, in eine ehemalige Hundefutterhandlung. Ich strich alles in Weiß und griechischem Hellblau, nahm die alten Arzneischränke meines Kollegen mit und stellte einen Holztisch aus dem Zimmer meiner Kinder dazu. Einer coolen Arztpraxis entspricht das sicher nicht, aber es passt zu mir.

Was, die Frau Doktor macht erst um acht Uhr auf?

Dann, Anfang dieses Jahres, der Tag der Eröffnung. Die Nacht davor konnte ich vor Angst nicht schlafen. Vielleicht kommt ­keiner! Aber als ich ankam, warteten schon die ersten Patienten vor der Tür. Es war Grippezeit und gleich viel los. Manche der ­älteren Patienten murrten anfangs, wie mir der Dorfapotheker erzählt hat. Viel zu groß und zu hell sei das bei der Frau Doktor! Und sie macht erst um acht Uhr auf statt wie der Kollege um 7:15 Uhr. Doch die meisten freuten sich, dass die Praxis im Dorf bleibt.

Ich habe mir die Arbeit jetzt so eingerichtet, dass ich mehr auf mich achte. Mittwochs versuche ich freizuhaben, dann vertritt mich der ältere Kollege. Und wenn ich an einem Vormittag viele Patienten habe und die Mittagspause ausfällt, weil ich Hausbesuche machen muss, dann versuche ich, wenigstens kleine Pausen zu machen: die Schuhe ausziehen, den Boden spüren, bewusst atmen. Entspannungstechniken, die ich auch manchen Patienten empfehle. Einige wollen aber nicht über Seelisches reden. Dann lasse ich es auch meistens. Aber es kommt auch vor, dass ein ­Manager mit Rückenschmerzen nach ein paar Wochen sagt: Vielleicht muss ich doch was im Leben ändern.

Schwierig: Patientengespräche beenden

Mit einem hat mein früherer Chef recht behalten: Es fällt mir immer noch schwer, Patientengespräche zu beenden. Vor allem mit Schwerkranken. Viele weinen bei mir. Hinterher geht es ­ihnen oft besser, einfach nur weil ich ihnen zugehört habe. Das nehme ich dann mit nach Hause. Aber es gibt jetzt auch leichte Tage. Wo es nur um Schnupfen oder Husten geht. Oder um gar nichts Besonderes. Wo ich merke, da möchte jemand einfach nur reden.

Protokoll: Ariane Heimbach

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Ich habe mir das Bild von Frau Dr. Crayen lange angesehen. Ungewöhnlich für eine Hausärztin ist, wie sie da sitzt. Bunte Jacke und farbenfroher Schmuck ist eher die (inoffizielle) Berufskleidung von Psychologinnen. Damit spricht man eben eher psychisch kranke Menschen in dunklen Stunden an. Ich erkenne eine Frau die schon viel erreicht hat, aber ich vermisse Distanz. Distanz zu dem was man sieht und hört, gelegentlich liest - einfach professionelle Distanz. Ich wünsche Ihr viel Kraft und Ausdauer bei dem Balanceakt zwischen Ökonomie und der Zeit, die sich nimmt, manchmal nehmen muß, um kranken Menschen ein bisschen ganzheitlicher zu helfen.

Ich kann mich an dem Bild dieser mir vertrauten Ärztin nicht lange genug anschauen! Ich denke viele Menschen würden sich einen farbenfrohen Hausarzt wünschen. GERADE auf Menschen mit psychischen Problemen, wirkt das schnöde, klassischen Weiß in Weiß eines Traditionellen Arztes, bestenfalls mit Kittel, Stetoskop, schlimmstenfalls Kopflampe, eher abschreckend, unangreifbar, vielleicht auch überheblich und zu Distanziert. Für alle führt doch der erste Weg bei Problemen eben zum Hausarzt, sei es um sich einfach mal auszuweinen, oder um sich weiteren Rat und Hilfe zu holen, sei es Zuweisung und Behandlung durch einen Fachkollegen, ober auch die Einleitung eines Reha-Verfahrens. Sicherlich, Distanz gehört zur Work-Life-Balance aller im Gesundheitswesen tätigen dazu, aber eben auch Einfühlungsvermögen und auch das Signal: "Ich bin auch nur ein Mensch, ich kann mitfühlen!" Genau dieses Gefühl hat mich Frau Dr. Crayen auch in der Klinik am Korso gegeben, als sie sich beispielsweise für die (vorgeschriebene) körperliche Untersuchung bei Reha-Antritt entschuldigte, und Verständnis zeigte, dass ich eben kein Mensch bin, der darauf steht, in den frühen Morgenstunden Sport (=Frühsport) bzw. "rumgehopse" zu betreiben! Sie machte auch kein Geheimnis daraus, dass sie auch nicht so auf das "Früh" im Frühsport steht, was sich ja auch in ihren Praxiszeiten wiederspiegelt! Dafür und für ihren Schritt die Dorfärztin in ihrem beschaulichen Dorf zu werden, gilt ihr mein tiefster Dank und Anerkennung. Schade das ich in der falschen Stadt wohne, ich würde sicherlich auch mal zum "reden" bei meiner Dortärztin vorbeikommen! ;) An dieser Stelle ganz herzliche Grüße. Stephan Beckmann aus Bielefeld

... wünsche ich mir! Wie schön, dass es Menschen wie Frau Dr. Crayen gibt. An dieser Stelle meine Hochachtung und mein Respekt für ihren mutigen Schritt. Ich wünsche ihr ganz viel Kraft und Energie, weiterhin für die Menschen da zu sein - so, wie sie es jetzt ist.