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Ich bin mehr als dieses Wort
Als ukrainischer Flüchtling, der seit einigen Jahren in Deutschland lebt, habe ich mich oft gefragt, ob der Begriff "Flüchtling" eine Stigmatisierung darstellt.
Lena Uphoff
18.04.2023

Als ich acht Jahre alt war, wurde ich das erste Mal als Flüchtling bezeichnet.

Es war während des Ersten Tschetschenienkrieges und im Fernsehen wurde jeden Tag über die Geflüchteten gesprochen. Einige von ihnen flohen in die Ukraine. Ich hatte nichts gemeinsam mit den Tschetschenen, aber ich habe von meinem georgischen Vater ein kaukasisches Aussehen geerbt. Deshalb haben meine Klassenkameraden mich bei Konflikten als „Flüchtling“ beschimpft. Keines von uns Kindern verstand damals wirklich die Bedeutung dieses Wortes und die Erwachsenen hatten es nicht eilig, uns etwas zu erklären.

Wir hörten Gesprächsfetzen und sahen in den Zeitungen verschwommene Bilder von ungepflegten, seltsam aussehenden, erschöpften Menschen aus Tschetschenien. Warum nur solche Fotos veröffentlicht wurden, ist nicht klar. Aber ich erinnere mich an dieses starke Schamgefühl in dem Moment, als ich als "Flüchtling" gehänselt wurde. Ich hatte das Gefühl, dass dies etwas Schändliches war und mir eigentlich nie passieren sollte. Ich hätte nie geahnt, dass es 27 Jahre später doch so kommen sollte.

Sind Flüchtlinge gefährlich?

Die meisten Ukrainer bezeichnen sich selbst momentan nicht als „Flüchtlinge“, sie bevorzugen den Begriff „вимушені емігранти“, den man mit „Zwangsauswanderer“ übersetzen kann. Dies sind die Folgen des sehr negativen Bildes, das die Medien in unserem Land während der beiden Tschetschenienkriege geschaffen haben. Aber nicht nur. Eine weitere Rolle spielte, zum Beispiel, der Vorfall an Silvester 2015 in Köln. Damals kam es zu sexuellen Übergriffen gegen Frauen, die von Belästigung bis hin zu Vergewaltigung reichten, durch mehrere Gruppen überwiegend muslimischer Flüchtlinge, die sich auf der Kölner Domplatte versammelt hatten. Darüber wurde nicht nur in Deutschland viel geschrieben. Auch in den ukrainischen Medien gab es eine riesige Resonanz. Ich habe damals in Wiesbaden gelebt und meine Freunde aus der Ukraine haben mich oft gefragt, ob ich Angst hätte, hier zu leben, weil es jetzt "so viele muslimische Flüchtlinge gäbe, die mich jeden Moment vergewaltigen könnten". Gleichzeitig kannten die meisten meiner Bekannten keinem einen einzigen Muslim oder Flüchtling. Ein solches falsches Klischee über alle Muslime und Flüchtlinge wurde unwissentlich von den Medien geschaffen. Ich bin mir sicher, dass dies einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung des Begriffs „Flüchtling“ und die Einstellung ihnen gegenüber hatte. Nicht nur unter Ukrainern, sondern auch unter Europäern.

Ich hatte damals den Status einer gewöhnlichen Emigrantin und lernte Deutsch in Sprachkursen. In unserer Gruppe waren viele Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern. Es war das erste Mal, dass ich ihnen so nah kam. Dabei verstand ich noch gar nichts davon, wie ihr Leben hier in einem für sie fremden Land, in das sie wegen des Krieges fliehen mussten, geregelt ist. Es gab viele unbewusste Klischees und Vorurteile in meinem Kopf, daher war ich überrascht, wie gebildet und nett diese Leute waren. Die 18-jährige Naya aus Damaskus hat immer versucht, neben mir im Raum zu sitzen. Deutsch war schwierig für sie, aber sie wollte unbedingt studieren, um später einen Job zu finden und ein anständiges Leben zu führen, anstatt einen ungeliebten Mann zu heiraten, der viel älter ist als sie. Sie bat mich, ihr mit Deutsch zu helfen – wir verbrachten viel angenehme Zeit zusammen. Karim aus Kabul wurde einer meiner besten Gesprächspartner. Er war 24 Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Sein Haus wurde durch eine Bombe zerstört und er ging als ältester Bruder der Familie nach Europa, um Arbeit zu finden und später seine jüngeren Schwestern hierher zu holen. Er wollte Arzt werden und erzählte mir viel über Afghanistan, darüber, was für ein Land es vor seiner Zerstörung war: kulturell, sozial und politisch. Ich wusste damals nicht viel über Afghanistan, und seine Geschichten beeindruckten mich.

Später trennten sich unsere Wege: Karim ging nach Amerika, Naya studierte in einer anderen Stadt, und ich beschloss, wieder ein wenig in der Ukraine zu leben, um die Arbeit an einem neuen Buch abzuschließen und es zu veröffentlichen. Aber ich musste früher als geplant nach Deutschland zurückkehren: Am 24. Februar 2022 wurde ich in Kiew von Bombenexplosionen geweckt, und da meine Schwester in Frankfurt lebt, machte ich mich auf möglichst schnellem Weg zu ihr auf.

Kommunikationsschwierigkeiten

Diesmal musste ich etwas ganz Neues über das Leben von Flüchtlingen lernen. Was Karim und Naya mir nicht gesagt hatten: Wenn du ein Flüchtling bist, helfen dir viele Menschen, die meisten bedauern dich, aber nur wenige wollen dir nahekommen. In jedem Lebensbereich. Und das ist verständlich.

In den ersten Lebensjahren in einem neuen Land ist es schwierig, sich mit Flüchtlingen zu verständigen. Sie sind moralisch am Boden zerstört, allem Vertrauten beraubt, sehen keine Perspektiven und sind gezwungen, jeden Tag das zu tun, was sie nie wollten und nicht geplant haben. Parallel dazu werden sie von tragischen Nachrichten aus ihren Heimatländern zerrissen. Sie mussten die Verbindungen zu Freunden und Verwandten abbrechen, das aufgeben, was sie jahrelang gerettet und aufgebaut hatten, und leben jetzt entweder in einem Lager oder bei Fremden. Als Ergebnis - Nervenzusammenbrüche, Depressionen, Aggressionen in der Kommunikation, oft - unangemessenes Verhalten. Für die umliegenden Menschen, die an ihrer Situation nicht schuld sind und unter ihren gewohnten Bedingungen leben, ist es schwierig, eine Kommunikation mit ihnen aufzubauen (zusätzlich zu den fehlenden Kenntnissen der Landessprache).

Leseempfehlung

Die größte Überraschung für mich war jedoch die Tatsache, dass Flüchtlinge auch negative Reaktionen von vielen Landsleuten erhalten, die sich entschieden haben, in ihrem Heimatland zu bleiben. Sie betrachten Flüchtlinge als Verräter, die nicht für eine bessere Zukunft ihrer Heimat gekämpft und sich lieber in einem fremden Land eine neue Existenz aufgebaut haben, während andere im Krieg sterben würden. Früher, zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs, als es noch kein Internet gab, verschwand die Verbindung zu Flüchtlingen für immer. Dank der Technologie bleiben wir heute in sozialen Netzwerken, Messengern oder Medien miteinander verbunden. Dadurch verlieren wir uns nicht komplett aus den Augen aber wir erhalten eben auch negative Meinungen und Einstellungen aus der Heimat.

Du bist viel mehr als dieses Wort

Das Grundbedürfnis eines jeden Menschen zum Überleben ist es, sein „Rudel“ zu finden und von ihm anerkannt zu werden und ein Einheitsgefühl zu schaffen. Daraus werden im Körper Hormone (Serotonin, Dopamin, Oxytocin) produziert, von denen nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Gesundheit abhängt. Doch wenn wir uns (unterbewusst) unseres Platzes in der Gesellschaft beraubt fühlen, werden wir nur noch gestresster, genervter und machen es unserem Umfeld noch schwerer, uns in seiner Mitte aufzunehmen. Aus diesem Grund machen viele Flüchtlinge den Fehler, in einem neuen Land nur mit ihren eigenen Landsleuten zu kommunizieren. In diesem Fall besteht jedoch das Risiko, dass ein neues Leben und eine Weiterentwicklung niemals kommen werden. Daher ist es notwendig, gleichzeitig unseren eigenen „Rudel“ zu suchen in einer neuen Umgebung, auch wenn es sich um Ausländer mit einer anderen Mentalität handelt

Ich hatte Glück: Ich fand einen Job in Frankfurt, wodurch ich viele lokale Kontakte knüpfen konnte. Ich warte von ganzem Herzen auf den Sieg der Ukraine und helfe denen, die unter dem Krieg gelitten haben, aber gleichzeitig besuche ich aktiv lokale Veranstaltungen in Deutschland und plane sogar, ein neues Profil in sozialen Netzwerken zu eröffnen: auf Deutsch. Denn wir müssen vorankommen. Und weil ich verstanden habe, dass „Flüchtling“ kein Stigma ist. Ein Flüchtling ist schließlich keine Charaktereigenschaft, sondern ein Rechtsstatus. Es ist nicht wahr, dass Menschen Flüchtlinge nicht mögen. Menschen mögen diejenigen nicht, die lange (für immer?) in Unentschlossenheit, Ängsten und Selbstverschlossenheit stecken bleiben. Zwangsemigration ist beängstigend und sehr schmerzhaft, aber falls das mit Dir passiert ist, sollst Du die Kraft finden, um anderen zu zeigen, dass Du viel mehr bist als dieses Wort.

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"Als ukrainischer Flüchtling, der seit einigen Jahren in Deutschland lebt, habe ich mich oft gefragt, ob der Begriff "Flüchtling" eine Stigmatisierung darstellt. "

Ich finde den Begriff Flüchtling nicht relevant.

Ich bin ein Mensch, jemand, mit einer eigenen Identität , mit religiöser Überzeugung, oder auch nicht, e.t.c.

Und super, dass Sie " Glück hatten" , denn darauf kommt es hauptsächlich an.

Leider ist das, was ich als Glück ansah, heute keines mehr, d.h. alles ist relativ.
Wichtig ist Liebe.

" Das Grundbedürfnis eines jeden Menschen zum Überleben ist es, sein „Rudel“ zu finden und von ihm anerkannt zu werden und ein Einheitsgefühl zu schaffen. "

Eine armselige Einstellung.

" Aus diesem Grund machen viele Flüchtlinge den Fehler, in einem neuen Land nur mit ihren eigenen Landsleuten zu kommunizieren."

Das ist legitim, und wichtig, um zu erkennen, wer man selber ist.
Andernfalls würde es zur Verleugnung seiner Vergangenheit und anschliessend seiner selbst führen.

Siehe Alltagsrassismus, den die Medien als Diskriminierung dem `bösen Deutschen Rassisten` anzulasten bemüht sind.
Dabei handelt es sich doch um die berechtigte Frage nach der eigenen Identität.
Ein Flüchtling ist jemand, der aus seinem eigenen Land geflohen ist, um ein besseres Leben woanders zu führen.
Mit welchem Recht will man dann um vermeintliche Rechte feilschen ?

Meine Identität ist meine Geburt. Es ist Liebe.

Das Thema langweilt mich allmählich.
Ich bin schliesslich auch noch da.
Soll ich denn mit all den neuen nun wiederum konkurrieren ?

Sie müssen wissen, dass Ihre Geschichte zwar für Sie neu ist, aber sie ist nicht neu an sich.
Migration ist ein fester geschichtlicher Begriff.

Wichtig ist also auch der geschichtliche Zusammenhang. Die eigene Geburt ist schliesslich nicht die Geburt der Welt an sich.

Mobilisieren Sie Ihre Landsleute, apelieren an Javlensky, und schaffen Ihre eigene Identität, unabhängig von Anderen.

Ich wünsche Ihnen dabei viel Glück !

P.S. Meine eigene Identität habe ich lange Zeit leugnen müssen, ohne Chance auf Rechtfertigung.
Wer sein Flüchtlingsstatus aufgibt, gibt gleichzeitig seine Identität auf, d.h. der verkauft sich selbst.
Das passt nicht mehr in die heutige Welt , in der es um nachhaltige Werte, und um eine kosmopolitische Identität, jenseits aller ausbeuterischen Kriterien geht.

" Ich hatte damals den Status einer gewöhnlichen Emigrantin und lernte Deutsch in Sprachkursen."

Heute sind Sie eine nicht " gewöhnliche Emigrantin " ?
Belassen wir es lieber bei dem Wissen um geschichtliche Zusammenhänge.

Ich meinte natürlich Herrn Selenskyj,:-) ...
Kunst ist mir bedeutend lieber als der Krieg,
Alexej von Jawlensky fühlte sich seinerzeit sehr wohl in Deutschand, wurde sogar deutscher Staatsbürger, bis auch seine Kunst als " entartet " verboten wurde...

Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum