jhc
Was vergiftet die Politik?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
21.08.2020

Die „Glaubenssachen“, die der NDR jeden Sonntagmorgen ausstrahlt, sind eine feine Sache: zwanzigminütige Essays über religiöse und Zeitfragen. Früher musste diese lange Wort-Strecke verteidigt werden, heute, da Podcasts so beliebt sind, ist das zum Glück nicht mehr nötig. Seit zwölf Jahren darf ich als Autor mitmachen. Jetzt hat der Radius-Verlag unter dem Titel „Über den Takt in der Religion“ eine Auswahl veröffentlicht. Die meisten meiner Texte sind natürlich von zeitloser Gültigkeit, ehern-erhabene Klassiker, Worte für die Ewigkeit. Bei einem aber habe ich überlegt, ob ich ihn heute genauso oder ganz anders schreiben würde. Entstanden ist er unter dem frischen Eindruck des „Trump-Schocks“, gesendet wurde er am 15. Januar 2017. Aber urteilen Sie selbst:

„Am kommenden Freitag wird in den USA ein neuer Präsident vereidigt. Das ist an sich keine Katastrophe. Es ist die Folge eines Knäuels von Katastrophen und der Beginn einer Katastrophen-Lawine… Der Schock, den die Wahl ausgelöst hat, ist immer noch frisch… Denn etwas ist geschehen, das kaum zu verstehen und nicht zu verzeihen ist: ein Zivilisationsbruch. Hier wurde etwas zerstört: ein Konsens über die Demokratie, ihre Grundregeln und wichtigsten Institutionen, ein Einverständnis über eine offene Gesellschaft, ein Gefühl für Anstand und Respekt… Etwas anderes ist an die Macht gekommen. Es sieht hässlich aus, ist laut, klingt dumm, wirkt gemein und macht Angst. Es erkennt keine anderen Prinzipien an als die eigene Eitelkeit und Habgier…

<Der neue Präsident verfolgt eine doppelte Strategie: Spaltung im Innern und Abschottung nach außen.> Besonders erfolgversprechend ist es, die Armen oder die ethnischen Minderheiten zu beschämen, um so den zum Teil berechtigten Zorn der Bevölkerung auf Menschen zu richten, die noch eine Stufe unter einem stehen und die sich nicht wehren können. Diese Methode hat eine zweite Seite: die Abschottung nach außen. Der neue Präsident der USA hat gezeigt, welche Erfolge man mit dieser Doppelstrategie erzielen kann. Man muss nur fähig sein, in einem Ausmaß zu lügen und zu beleidigen, wie es normalen Menschen nicht möglich ist. Das Problem bei dieser Strategie ist allerdings, dass man sie nach einem Wahlerfolg nicht fallen lassen kann. Es ist nicht möglich, sich im Amt zu mäßigen und professionell-besonnen zu regieren, weil sich dann die Wut, die man entfacht hat, gegen einen selbst richten würde. Nun ist beim neuen Präsidenten nicht mit Mäßigung, Professionalität, Besonnenheit und Selbstdisziplin zu rechnen. Auch seine Mannschaft, die zum großen Teil aus ruchlosen und radikalen Personen besteht, lässt dies nicht erwarten. Die einzige Hoffnung ist, dass der neue Präsident an der eigenen Berufsunfähigkeit scheitert. Doch diese Hoffnung wurde schon im Wahlkampf enttäuscht. Man muss sich auf das Schlimmste einstellen…

 Was ist zu tun? Ein erster Schritt besteht darin, das Wort „Feind“ neu zu buchstabieren… Das klingt ungewöhnlich, besonders wenn es von einem Theologen kommt. Evangelische Freunde der offenen Gesellschaft und aufgeklärte Protestanten haben eine Meisterschaft im Brückenbauen entwickelt. Das ist eine hohe Kunst. Aber sie stößt an Grenzen, wenn sie es tatsächlich mit Feinden zu tun bekommt. Und diese gibt es…

Ein Feind ist zu unterscheiden vom Gegner. Der Gegner bewegt sich im selben Rahmen, teilt viele Grundüberzeugungen. Er ist ein Konkurrent, mit dem man sich streiten muss, manchmal mit Wut, vor allem aber mit besseren Argumenten. Natürlich möchte man den Gegner stets besiegen. Da dies jedoch nicht möglich ist, wird man lernen müssen, dessen Siege zu akzeptieren oder einen Kompromiss mit ihm auszuhandeln. Der Feind ist etwas anderes als ein Gegner: Er hasst uns und will ein anderes System. Deshalb beschränkt er sich nicht darauf, an den herrschenden Verhältnissen eine präzise Kritik zu üben, sondern versucht, ihnen die Legitimität abzusprechen. Seine Waffe ist die kommunikative, psychische oder körperliche Gewalt. Deshalb muss man mit ihm anders streiten als mit dem Gegner: Er darf keinen noch so kleinen Anteil an der Macht erhalten, sein Sieg ist unter allen Umständen zu verhindern…

Einen Fehler darf man dabei allerdings nicht begehen: Man sollte den Feind nicht hassen, dessen Hass nicht mit Gegen-Hass beantworten. Denn der Hass macht abhängig von dem, den man hasst. Er lässt einen am Bösen anhaften…

Für die offene Gesellschaft sollten wir kämpfen. Ihren Feinden müssen wir entgegentreten, deren Wählern ein besseres Angebot machen. Manche werden wir nicht erreichen, andere aber schon. Das Christentum kann dafür eine zweifache Inspiration geben. Zum einen weiß es um die Macht der Bosheit: Der Mensch ist gierig und verführbar, von Natur aus keineswegs gut. Zum anderen lehrt das Christentum, die Hoffnung nicht aufzugeben. „Liebe deine Feinde“ – das ist ein hoher Anspruch. Aber man kann sich ihm in kleinen Schritten nähern, zum Beispiel indem man versucht, aus einem Feind nicht gleich einen Freund, aber immerhin einen Gegner zu machen, mit dem man demokratisch streiten kann. Auch darin steckt ein christlicher Kern der offenen Gesellschaft, nämlich der Glaube an Veränderung, Umkehr und Versöhnung.“

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Die letzten Monate beweisen, das ist ein kluger Beitrag, der zwar nicht die Welt beeinflusst oder gar verändert hat, der aber zum Verständnis beiträgt. Aber was nutzt er, außer zu dem Gefühlsgewinn, schon vorher glaubt geahnt zu haben, was sich hinterher bestätigt?

Im Gegenstz dazu hält sich unsere oberste Kirchenführung in den vergangenen Monaten in politischen Alltagsfragen merklich zurück. Zumindest ist die Presse hierzu in der Berichterstattung zurückhaltend. Allerdings hätten die EKD, oder doch zumindest ihre politischen Berichterstatter und Kommentatoren, in den vergangen Jahren wahrlich genügend Anlass gehabt, auch einmal ihre fundierten Meinungen über die politische Rolle der evangelischen Kirchen in den USA kund zu tun. Denn was sich das mit den Ablegern so tut, ist ja wahrlich das Gegenteil von dem, was bei uns an christlichen Werten verteidigt wird. Oder sind wir alle nur einseitig informiert und die evangelischen („Weißen“?) Kirchen sind vielleicht doch dort der Wehrwall gegen alle rassistischen Diskriminierungen, des Waffenbesitzes, von Corona, den Polizeiübergriffen, und doch für neue Sozialgesetze, für eine uneingeschränkte Gesetzestreue und gegen die Lügen der politischen Macht? Wenn es dort eklatante Verstöße gegen die von uns verteidigten Werte geben sollte, warum ist man denn bei uns so still? Oder versteht man den Begriff der christlichen Solidarität für die USA anders, als man ihn vermutlich für uns auslegen würde? Es war in den vergangenen Jahrzehnten schon immer seltsam still gewesen, wenn es darum ging, politische Verirrungen anderer evangelischer Glaubensgemeinschaften auch nur zur Kenntnis zu nehmen oder gar zu bewerten.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur