- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
"Iss, Bub, damit du was wirst!" Meine Oma besuchen, das hieß essen. Und das galt nicht nur für mich. Wer sich lange vorher bei ihr anmeldete, wurde bekocht. Wer sie mit kurzer Vorwarnzeit aufsuchte, musste den eiligst besorgten Kuchen verdrücken. Wer hereinschneite, für den improvisierte sie aus den manchmal kargen Vorräten eine Brotzeit: ein Kanten Brot, eine Dose Wurst, ein paar Gürkchen oder Schnittchen mit Honig und Marmelade. Dazu ein Bier, ein Tässchen Kaffee oder Tee.
Es gab kein Entrinnen. Verweigerungsversuche der leisen Art wurden ignoriert. Massive Einwände parierte die alte Dame mit der Macht des Faktischen. "Nein, Oma, wirklich nicht! Nein, ich esse nichts, ich halte gerade Diät! Oma!" Hilflose Rückzugsgefechte, mit denen die Offensive der Gastgeberin allerhöchstens zu verzögern, nicht aber zu stoppen war: Großmutter tischte einfach auf. Sie kam aus der Küche mit einem Teller Käse, nahm für einige Sekunden Platz, erhob sich "Senf fehlt noch" erneut, verschwand, kehrte mit dem Mostrichglas wieder. "Oma, jetzt bleib doch mal sitzen. Ich komme doch wegen dir und nicht wegen des Essens!" Ein sinnloser Protest.
Jede und jeder kann solche Geschichten erzählen. Und wenn sie nicht von der Großmutter handeln, dann von der Mutter, der Tante, der Schwester oder einer guten Freundin. Dabei ist es gleichgültig, ob die gastgebende Frau eine Intellektuelle ist oder eine Bäuerin, eine Berufstätige oder eine Rentnerin. Wer bei Frauen zu Gast ist, muss schon deswegen den Mund aufmachen, weil es etwas zu beißen gibt oder zu lutschen. Nähren, sättigen, Hunger stillen das ist die reine Form mütterlicher Intimität, das ist die Erotik des Versorgens.
Und was tun die Väter, die Onkel und Brüder, die Freunde? Sie bieten etwas zu trinken an. Sie laben mit kühlem Nass und tun dem Gast mit einem Trinkspruch Bescheid. Auch dem kann man sich nur schwer entziehen. Wenigstens ein Glas Wasser muss der Gast nehmen, sonst ist er nicht richtig da, sonst ist er nicht angekommen. "Setz dich und trink ein Glas mit mir!"
Indem wir gastfreundlich sind, nehmen wir einander für Minuten oder Stunden an Kindes statt an. Indem wir das Brot und den Wein miteinander teilen, kommen wir uns so nahe, wie es ohne körperliche Entblößung und in Gruppen nur geht. Das gemeinsame Mahl ist ein Ritual der Vertrautheit, das man nicht ersetzen kann. Nicht durch gemeinsames Fernsehen oder nur miteinander Plaudern. Nicht dass diese Formen der Begegnung keine Kraft hätten, aber das beste Gespräch wird noch immer von einem gemeinsamen Essen, mindestens aber einem Glas Wein oder Bier gekrönt und bekräftigt.
Irgendwann habe ich aufgegeben, mich gegen die großmütterliche Vergewohltätigung zu wehren, die ohne jede Ironie durchaus von dem Sermon begleitet sein konnte: "Du hast aber ganz schön zugenommen seit deinem letzten Besuch." Dies als Anknüpfungspunkt für die Nahrungsverweigerung zu betrachten, tat meine Oma mit dem Hinweis ab: "Abnehmen kannst du, wenn du wieder daheim bist."
Nun muss ich nur noch lernen, all die anderen Mütter gewähren zu lassen, bei denen ich mich mit der Gast-/Kindrolle nicht so leicht abfinden kann wie bei meiner Oma oder bei guten Freunden. Und wo tut man sich als Erwachsener am meisten schwer? Vielleicht bei der eigenen Mutter. Weil dort die Wirklichkeit zu nahe beim Ritual liegt, so dass die Trennschärfe der Abstraktion nicht mehr funktioniert.
Seid gastfrei, ohne zu murren, schreibt Paulus. Das fällt mir leicht. Lasst euch mal wieder verwöhnen, ohne euch dauernd zu wehren! Nehmt oft und reichlich von dem, was euch angeboten wird! Seid Gast, bis ihr nicht mehr papp sagen könnt! Meinen Gastgebern wie einst meiner längst verstorbenen Oma diese Genugtuung zu schenken, daran muss ich als verbildeter Mitteleuropäer noch ganz schön werkeln.
Lassen wir es uns schmecken!
Arnd Brummer,
Chefredakteur von chrismon