15.11.2010

Die Welt, wie wir sie bis zum 11. September 2001 kannten, gibt es nicht mehr. Das Leben, wie wir es bis zu jenem Dienstag führten, ist ein anderes geworden. Wahrscheinlich haben wir noch dieselbe Stelle, denselben Beruf, sind noch mit demselben Partner zusammen wie früher. Vielleicht gehen wir immer noch im selben Restaurant essen, telefonieren noch mit denselben Freunden, hören noch die gleiche Musik, schauen noch die gleichen Fernsehserien an. Ärgern uns über dieselben Nachbarn. Das alles ist geblieben.

Doch als sich American Airlines, Flug Nummer 11 in den Nordturm des World Trade Centers bohrte, sind wir erwachsen geworden. Und die, die es schon vorher waren, erinnerten sich plötzlich, dass sie es sind. Vorbei die Klugscheißerei über das Leben oder was wir dafür gehalten haben. Vorbei der billige Zynismus. Vorbei auch der Überdruss, das Abwinken, das Gähnen, wenn Worte fallen wie "Freiheit" oder "Gerechtigkeit", "Wohlstand", "Zukunft". Vokabeln, die doch längst eine ehrenvolle Bestattung hinter sich hatten in Parteiprogrammen und Gut-Menschen-Prosa. Eine Hand voll Menschen, die in blindem Hass sich und tausende andere in den Tod stürzten, haben uns gezwungen, uns zu besinnen ­ wer wir sind, woher wir kommen, wofür wir stehen, was uns wichtig ist. Mehr als jedes andere Ereignis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Regimes.

Freiheit! Die freie Welt! Die offene Gesellschaft! Dass sie Feinde hat, wissen wir. Wussten wir auch vorher. Jetzt soll sie noch besser verteidigt werden, die Freiheit, die offene Gesellschaft. Mit den Mitteln des Staats und der Staatengemeinschaft, mit Waffengewalt und schärferen Sicherheitsvorkehrungen. Gegen die Feinde. Aber hat sie auch Freunde, die Freiheit?

Freiheit, das ist, wenn ein Mensch aus eigener Einsicht und ohne Zwang selbst darüber entscheiden kann, was er glaubt, was er denkt und wie er handelt, wo er leben und arbeiten, wohin er reisen will, was er sagen oder schreiben, was er tun oder unterlassen will. Ist eigentlich keine böse Sache, oder? Das ist sogar eine verdammt gute Sache. Freunde hat sie aber in Wirklichkeit trotzdem nicht viele, die Freiheit. Denn sie kostet einen Preis. Das amerikanische Volk hat ihn in unglaublicher Weise bezahlen müssen.

Der Preis der Freiheit ist die Verletzbarkeit. Freiheit ist nämlich auch und vor allem die Freiheit des anderen, des Nachbarn und des Fremden. Desjenigen also, der vielleicht anders glaubt, anders denkt, anders handelt. Den ich nicht unter meiner Kontrolle weiß durch gleiche Überzeugungen, gleiche Parteibücher, gleiche soziale Herkunft ­ oder durch ein Überwachungssystem. Ein Mensch also, der meiner Macht entzogen ist. Und mir deshalb auch gefährlich werden kann. Je freier, desto verwundbarer, haben die Politiker und Kommentatoren in den letzten Wochen immer wieder gesagt.

Doch das alles war natürlich auch schon vor jenem 11. September 2001 wahr. In Deutschland erinnern wir uns an die XX. Olympischen Sommerspiele 1972 in München, bei denen ein arabisches Terrorkommando namens "Schwarzer September" ein Blutbad anrichtete. Wir erinnern uns an die Rote-Armee-Fraktion, an die gesprengte deutsche Botschaft in Oslo, an die Ermordung von Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns Martin Schleyer, Alfred Herrhausen, Detlev Rohwedder, an die Entführung der Lufthansamaschine "Landshut" nach Mogadischu, an Anschläge auf Militäreinrichtungen und an Entführungen von Menschen, die zu "reich", zu "reaktionär", zu "wichtig" waren ­ oder schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir erinnern uns an die Anschläge auf die Diskothek "La Belle" und das Lokal "Mykonos" in Berlin, an die Brandanschläge auf Ausländerunterkünfte, jüdische Einrichtungen, Kirchen, wir erinnern uns an Solingen und Mölln, an Guben. Und diese Liste ist nicht vollständig.

Keine offene Gesellschaft war jemals gegen seine Feinde immun: Kampfgas waberte vor sechs Jahren durch die Tokioter U-Bahn, und immer wieder explodierten Bomben in Belfast, London, Oklahoma City, New York, in Italien, Spanien, Frankreich. Und diese Liste ist noch viel unvollständiger ...Dann ist da noch Israel. Der Berg Zion, wohin nicht Völker pilgern, um Gott anzubeten, sondern menschliche Bomben, um Verderben zu bringen. Kein Staat mit einer offenen Gesellschaft versteht besser als die Israelis, was die Angst des Terrors für ein freies Gemeinwesen bedeutet.

Die Erfahrung also, dass die offene Gesellschaft bedroht ist, sollte keine neue sein. Sie ist es aber, zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung in den westlichen Staaten. Erst die Monstrosität und die perfide Inszenierung der Terror-Serie in den USA haben die scheinbare Selbstverständlichkeit und Sicherheit der westlichen Zivilisation als Irrglaube entlarvt.

In seinem 1908 erschienenen Zukunftsroman "The War in the Air" schreibt der Schriftsteller H. G. Wells über das New York, das er doch für "wunderbarer als Rom" erachtete: "Während die Luftschiffe sich vorwärts bewegten, zertrümmerten sie die Stadt, wie ein Kind seine Städte aus Stein und Pappe zerstört."

Wenn Kinder nicht mehr interessiert sind an ihrem Spielzeug, wird es irgendwann kaputtgehen. Weggeworfen, zertreten. Die offene Gesellschaft ist kein Spielzeug. Aber sie war lange Zeit ein Spielplatz. Ein Spielplatz, wo die angeblich klügeren Kinder große Sandburgen bauten mit hochklingenden Namen wie "IWF", "Weltbank", "NATO", "Wirtschafts- und Währungsunion", "EU", "Weltwirtschaftsgipfel" und die angeblich anständigeren Kinder dauernd herumliefen und schrien, wie dumm und ungerecht sie das alles finden. Fest steht aber: Nur die Freien dieser Welt haben diesen Luxus ­ dürfen spielen, Sandburgen bauen, protestieren. Es gibt Menschen, die diesen Luxus nicht kennen. Die ihn sogar hassen und vernichten wollen. Und es gibt andere, die sich danach sehnen.

Genau dieser Luxus der Freiheit, eine Errungenschaft leidvoller Zivilisationsgeschichte, ist bedroht ­ zumindest haben Milliarden von Menschen überall auf der Welt gesehen, wie eine Hand voll Terroristen ein nicht zu übersehendes Schild auf diesem Spielplatz der westlichen Zivilisation angebracht hat: "Spielen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit dem Tode bestraft." Es geht nicht mehr um die Sandburgen ­ es geht um den Boden von Grundwerten, auf denen wir unsere Gesellschaft weiterbauen. Es ist im Grunde gleichgültig, ob es den IWF oder die EU oder die NATO in 50 Jahren noch als Institutionen gibt. Aber es hängt viel davon ab, ob wir dabei eine Wahl haben und diese Wahl zu schätzen wissen.

Vorbedingung aber für den Vollzug von Freiheit ist das Erkennen der Wahrheit. Jener Wahrheit, die ohne distanzierende Anführungszeichen, ohne relativistische Verrenkungen auskommt. Von dieser Wahrheit wissen wir, dass sie für uns endlich ist, weil sie von Menschen erkannt und interpretiert wird und nicht von Göttern. Trotzdem wagen wir auf ihrer Basis zum Beispiel zu sagen: Die Achtung des Lebens eines jeden Menschen ist gut und richtig. Und: Andere Menschen zu hassen ist böse und falsch.

Zum Erkennen der Wahrheit gehört auch, dass wir die Freiheit nicht mehr losgelöst und abstrakt betrachten von ihren Kosten: Zum Beispiel zwingt uns die Freiheit, die wir durch die Trennung von Staat und Kirche haben, zu einem mühsamen Ringen um einen gemeinsamen Wertekanon. Die Alternative wäre ein vorgeschriebenes Glaubenssystem, sei es nun religiös oder szientistisch oder "relativistisch". Die Freiheit, dass wir zwischen verschiedenen Dienstleistungen und Produkten auswählen können nach Qualität, Geschmack und Preis, ist gekoppelt mit dem Risiko, dass Unternehmen scheitern und Menschen arbeitslos werden. Die Alternative ist eine Unterwerfung unter die planwirtschaftliche Willkür von Bürokratien. Die christlich-protestantische Freiheit vom "Priestertum aller Gläubigen" hat dazu geführt, dass Abspaltungen immer wieder die Gemeinschaft der Kirche gefährden. Die Alternative ist die Unterwerfung unter religiöse Eliten oder Gesetze. Die Freiheit der offenen Gesellschaft schließlich öffnet allen ihren Feinden eine Flanke ­ eben weil dies das Prinzip ist, auf dem sie beruht.

Sicher: Eine offene Gesellschaft muss sich gegen ihre Feinde wehren. Auch mit Gewalt. Sie ist aufgerufen, die Risiken im Umgang mit ihren Feinden zu minimieren. Aber sie darf nicht in Angst verharren und damit das Werk ihrer Gegner vollenden. Den Anspruch auf ein absolut sicheres Leben kann sie nie gewährleisten. Angesichts dieser zutiefst existenziellen Bedrohung kann die eigene Unsicherheit aber nur aushalten, wer tiefer wurzelt. Oder, wie es in einem Trauergottesdienst für die Terroropfer hieß: wer nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hand. Das ist ein lebendiger Glaube ­ und keiner, der anderen Menschen den Tod bringt.

Was für die offene Gesellschaft im Ganzen gilt, stimmt denn auch für andere menschliche Beziehungen: Wer Offenheit wagt, nimmt immer in Kauf verletzt zu werden. Der freieste Mensch, der je auf dieser Welt gelebt hat, ließ sich durch sein ganzes Handeln und Sein auf diese eigene Verletzbarkeit ein. Sein letztes Abendessen teilte er mit einem Menschen, der ihn an seine Mörder verraten würde. Beide wussten es, als sie miteinander aßen.

Die Freiheit hat in Wirklichkeit nicht viele Freunde. Vielleicht weil sie viel kostet

Gesucht wird: ein lebendiger Glaube. Und keiner, der anderen den Tod bringt

axel Reimann ist Mitglied des Editors Desk von chrismon. Nach den Terror-Angriffen auf die Vereinigten Staaten haben Redaktion und Verlag eine Kondolenzliste ins Internet gestellt. Alle Zuschriften wurden inzwischen dem amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg übergeben

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