15.11.2010

Oft muss ich in jüngster Zeit an Andrej denken. Ich lernte ihn bei einem Mittagessen kennen. Andrej ist 12 Jahre alt, halbseitig körperlich und hochgradig geistig behindert. Was man von ihm zuerst wahrnimmt, sind seine heftigen Bewegungen, mit denen er sich den Händen der Betreuer entreißt, und seine immer wieder gleichen Ausrufe. Das Einzige, was er sagen kann, ist: kuku. Immer wieder dieses eine Wort. Damit übertönt er jede Unterhaltung beim gemeinsamen Essen im Heilpädagogischen Zentrum, ja selbst den Gottesdienst.

Als Gäste aus der Evangelischen Kirche in Deutschland sitzen wir beim Mittagessen mit am Tisch. Die schwerst- und mehrfachbehinderten Kinder brauchen beim Essen die Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Stolz erzählen diese von den kleinen, aber doch so wichtigen Fortschritten der Kinder. Fröhlich geht es zu in dieser Einrichtung der evangelischen Kirchengemeinde Wassenberg. Doch sie liegt nicht im rheinischen Wassenberg, sondern im russischen Pskow unweit der estnischen Grenze.

Es begann 1991: 50 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Russland wollten Vertreter der Evangelischen Kirche im Rheinland ein Zeichen der Versöhnung setzen in einer Stadt, die im Krieg fast vollständig zerstört worden war. Klaus Eberl, der evangelische Pfarrer aus Wassenberg, lernt bei diesem Besuch einen russisch-orthodoxen Priester kennen, der ein behindertes Kind hat. Er kommt ins Gespräch mit Eltern weiterer behinderter Kinder, die sich in der Wohnung des Priesters treffen. "Nicht förderfähig" werden ihre Kinder genannt. Die Arbeitsfähigkeit eines Menschen als entscheidendes Qualitätsmerkmal? Für diese Kinder gibt es nur trostlose Verwahranstalten. Leben sie aber bei den Eltern, bleiben diese ganz ohne jede Hilfe.

Hier aber wollen die Wassenberger helfen. Und sie finden ­ trotz mancher bürokratischen Hürde ­ schnell offene Herzen und Türen in Pskow. Das Engagement der russischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beflügelt das Projekt. Viele von ihnen haben selbst behinderte Kinder, die das Heilpädagogische Zentrum besuchen. Heute erfahren 50 behinderte Kinder hier Zuwendung und Förderung. Weitere Einrichtungen kamen hinzu: eine städtische Behindertenwerkstatt, eine Abteilung für Früherkennung und ein Studiengang "Heilpädagogik" an der örtlichen Fachhochschule. Die Leitlinien der Arbeit im Heilpädagogischen Zentrum haben inzwischen Vorbildcharakter in ganz Russland.

Über der Eingangstür zum Heilpädagogischen Zentrum steht ein Wort aus dem Johannesevangelium. Jesus antwortet auf die Fragen, die das Schicksal eines Blindgeborenen bei seinen Mitmenschen auslöst: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm." Jesus heilte den Blindgeborenen.

Aber auch die Kinder, Eltern und Mitarbeiter in Pskow sind für mich Hauptpersonen einer Wundergeschichte: Menschen lassen sich in der Nachfolge Jesu herausfordern, menschenunwürdige Verhältnisse zu verändern. Gottes Ja zu allen Menschen gilt unabhängig von unseren Leistungen und Fähigkeiten. Und wo wir uns von dieser unbedingten Liebe Gottes in Bewegung setzen lassen, da gibt er selbst seinen Segen.

Hermann Gröhe

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