chrismon: Sie sind Palästinenserin und Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land. Gehört Gaza zu Ihrem Gemeindegebiet?
Sally Azar: Meine Kirche hat sechs Gemeinden in Jerusalem, Amman und im israelisch besetzten Westjordanland, rund 2500 Mitglieder. Wir haben keine Gemeinde in Gaza, aber die christliche Gemeinschaft ist sehr stark hier, viele sind auch verwandt miteinander. Durch Gemeindemitglieder habe ich Kontakt nach Gaza: Den Verwandten geht es schlecht. Sie sind die ganze Zeit nur in der Kirche und schauen, wie sie helfen können.
Sally Azar
Wie können Sie den Familien in Gaza helfen?
Wir beten viel. Wir schicken auch Geld und Hilfsgüter. Ich frage meine Gemeindemitglieder, was die Menschen brauchen.
Sie leben in Jerusalem. Können Sie nach Gaza fahren?
Nein, ich darf mit meinem Ausweis nicht einreisen, dafür bräuchte ich eine besondere Genehmigung. Jetzt geht das erst recht nicht.
Können Sie regelmäßig Ihre Gemeinden im Westjordanland besuchen?
Ich kann ins Westjordanland fahren, aber die Gemeindemitglieder können nicht zu mir nach Jerusalem kommen, sie kämen nicht durch Checkpoints und Mauern. Darunter leiden sie sehr. Ich sehe diese vielen Mauern, aber ich träume dennoch von Durchbrüchen.
"Hoffnung ist immer da – durch unseren Glauben"
Sally Azar
Welche Durchbrüche meinen Sie?
Dass es irgendwann keine israelische Besatzung in Palästina mehr gibt. Dass wir alle die gleichen Rechte bekommen, dass uns keine Mauern mehr trennen.
Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Hoffnung ist immer da – durch unseren Glauben und dadurch, dass wir als Kirche da sind und etwas verändern können. Ich glaube schon, dass sich jetzt langsam etwas ändert, auch weil viele in der Weltöffentlichkeit sehen, wie die Palästinenser leiden.
In der politischen Diskussion geht es immer noch um eine Zwei-Staaten-Lösung. Ruht darauf auch Ihre Hoffnung?
Wir als Kirche streben weiterhin eine Zwei-Staaten-Lösung an. Diese Lösung ist aber durch die vielen israelischen Siedlungen im Westjordanland in weite Ferne gerückt. Deshalb sollte man jetzt in eine neue Richtung denken. Wie die aussehen könnte, weiß ich aber nicht.
Welche Schritte tut Ihre Kirche, um da voranzukommen?
Wir wollen Brücken bauen und setzen auf Dialog, auch mit Israelis und verschiedenen Organisationen und unseren Partnerkirchen im Ausland. In unserer Kirche hier im Heiligen Land öffnen sich gerade viele Wege, auch was die Gleichberechtigung von Frauen angeht.
Es gibt also noch Gruppen, in denen sich Israelis und Palästinenser über den Frieden verständigen können? Auch öffentlich?
Ja, aber darüber wird wenig berichtet. Es sind auch eher Gespräche auf theologischer Ebene. Wir kennen uns ja alle. Wir sprechen aus unserer jeweiligen Perspektive, ich als Palästinenserin. Die Rabbinerin spricht aus ihrer Perspektive. Wichtig ist, dass keine Perspektive als wertvoller gilt als die andere. Aber es wird dauern, bis wir das, was wir da besprechen, unseren jeweiligen Gemeinden nahebringen können. Die Bereitschaft, sich zusammenzusetzen, ist momentan auf keiner Seite groß. Erst mal muss das eigene Leid verarbeitet werden.
Leiden Sie auch mit den Israelis, deren Angehörige immer noch von der Hamas als Geiseln gehalten werden?
Natürlich. Es wäre ja unmenschlich, wenn wir nicht auch das Leid der anderen sehen könnten. Auch das Leid der Familien, deren Angehörige am 7. Oktober getötet wurden. Ich kenne viele Israelis, die aus den angegriffenen Kibbuz stammen und höre viele Geschichten. Ich arbeite auch mit der Organisation Rabbis for Human Rights zusammen, einer israelischen Organisation, die sich zum Beispiel gegen die Zerstörung palästinensischer Häuser in den besetzten Gebieten engagiert oder palästinensische Gemeinden schützt, die von Siedlergewalt betroffen sind.
In den vergangenen Wochen haben immer wieder Menschen in Gaza gegen die Hamas demonstriert. Wie schätzen Sie das ein?
Ich und viele andere Palästinenser haben schon immer gesagt, dass nicht alle Leute in Gaza die Hamas unterstützen und was die machen. Aber man hat uns nicht geglaubt. Vor allem die christliche Gemeinschaft in Gaza ist gegen die Hamas. Es gibt viele unterschiedliche Formen des Widerstands gegen die israelische Besatzung. Gewalt ist nicht der richtige Weg für mich und meine Kirche.
"Es ist wichtig, dass die Welt den Protest sieht"
Sally Azar
Kann der Protest erfolgreich sein?
Ich glaube, sehr viele Menschen in Gaza haben es satt, so weiterzuleben. Ob der Protest die Hamas zu Zugeständnissen bringt, weiß ich nicht. Aber es ist wichtig, dass die Welt den Protest sieht.
Meinen Sie, die Hamas gibt irgendwann die Macht ab?
Ich glaube nicht, dass nun alles von der Hamas abhängt. Das Problem ist ja viel größer.
Aber wenn die Hamas morgen sagen würde "Wir lassen alle Geiseln frei und sind bereit zum Frieden", dann würde es Frieden geben, oder?
Vielleicht würde der Krieg in Gaza enden. Aber was für ein Frieden wäre das? Die Zustände in Gaza waren auch vor dem 7. Oktober furchtbar durch die israelische Besatzung. Wir würden weiter unter der Besatzung leben, auch hier im Westjordanland und in Jerusalem leiden wir darunter. Wir würden weiter als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Jetzt ist die Zeit, eine größere Lösung zu suchen, die für uns alle Gleichberechtigung vorsieht.
Ist das mit Netanjahu und der jetzigen Regierung möglich?
Wir sehen ja, dass das nicht geht. Beide Seiten müssen aufeinander zugehen.
Was wünschen Sie sich von den Kirchen in Europa?
Dass mehr darüber gesprochen wird, dass es eine palästinensisch-lutherische Kirche gibt. Das wissen vermutlich die wenigsten. Dass man sich nicht sofort für die eine oder andere Seite positioniert. Dass man nicht immer gleich eine Meinung hat zur Situation hier, sondern versucht, die Komplexität unserer Situation zu begreifen.
Viele in Deutschland tun sich schwer damit, mit Palästinensern und zugleich mit Israelis solidarisch zu sein. Geht das überhaupt?
Es darf kein Entweder-oder sein. Wir alle sollten mit den Menschen mitleiden, die leiden. Die Menschen können nichts dafür.
Na ja, Benjamin Netanjahu wurde gewählt. Auch die Hamas wurde gewählt.
Die Hamas wurde nur durch eine kleine Gruppe von Palästinensern gewählt. Die Wahl fand ja nur in Gaza statt. Ich würde auch ungern Israel und Palästina vergleichen – das sind keine gleich starken Mächte. Die Palästinenser haben keinen Staat, kein Militär. Israel sind die Besatzer.
Hatte Ihr Berufswunsch, Pfarrerin zu werden, auch damit zu tun, dass Sie Palästinenserin sind und Hoffnung vermitteln wollen?
Das habe ich mir nicht so genau überlegt, das hat sich auf dem Weg so ergeben. Ich habe mich viel in der Jugendarbeit engagiert, deshalb wollte ich Theologie studieren. Dass es in meiner Theologie einmal so wichtig werden würde, dass ich Menschen Hoffnung gebe, hätte ich nicht gedacht.
Gehen Ihnen manchmal die ermutigenden Worte für Ihre Gemeindemitglieder aus?
Ja, es ist nicht immer einfach, die richtigen Worte zu finden. Manchmal hilft Ehrlichkeit. Auch Jesus hat nicht immer mit Worten getröstet – manchmal mit einem Blick, einer Geste, einer Berührung. Worte sind wichtig, aber nicht alles. Authentisch zu bleiben ist oft der größte Trost. Auch Römerbrief 8 tröstet: Auch Gott kennt das wortlose Seufzen. Und manchmal dürfen auch wir seufzen – in Gottes Gegenwart.