Wie viele hochsensible Menschen gibt es?
Nina Brach: Hochsensibilität ist noch wenig erforscht. Die Wegbereiterin dafür, dass wir heute mehr über dieses Phänomen nachdenken, ist Elaine Aron, eine amerikanische Psychologin, sie ist 80 Jahre alt. Es gibt Schätzungen, wonach etwa 20 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft hochsensibel oder hochsensitiv sind. Ich gehe davon aus, dass es noch etwas mehr sind.
Nina Brach
Sie haben gerade zwei Begriffe erwähnt, "hochsensibel" und "hochsensitiv". Ist das dasselbe?
Hochsensibilität hat für mich mit den fünf Sinnen zu tun: Mir ist etwas viel zu laut, zu grell, zu penetrant. In keinem meiner T-Shirts habe ich hinten noch das Schild mit den Waschempfehlungen, weil die mich so kratzen, dass ich immer wieder daran denken würde. Das Empfinden mit den fünf Sinnen - sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen - ist wie hochgedreht.
Und Hochsensitivität?
Sie ist wie ein sechster Sinn. Man kommt in einen Raum und weiß, hoppla, hier ist gerade was los, hier gibt es Spannungen! Hochsensibilität und Hochsensitivität bringen unterschiedliche Herausforderungen mit sich.
Welche sind das?
Wer hochsensibel ist, fühlt oft eine Reizüberflutung. Deshalb ist für manche zum Beispiel Einkaufen ein Graus. Es gibt keinen Türsteher vorm Gehirn, der Reize abweist. Das Gehirn wird regelrecht geflutet mit Geräuschen, Stimmen, Gerüchen – und das kann sehr überwältigend sein. Hochsensitive Menschen nehmen sich sehr vieles zu Herzen, beziehen jeden Halbsatz auf sich und denken: Oh nein, habe ich einen Fehler gemacht?
Sind Sie selbst ein hochsensibler und hochsensitiver Mensch?
Ja.
Ist das eine Krankheit?
Ich finde: nein! Aber andere sehen es so. Sie gehen zum Beispiel davon aus, dass hochsensible Menschen ein Trauma erlitten haben müssen. Für mich ist es einfach ein Persönlichkeitsmerkmal. Man hat diese Sensibilität in sich, ob man will oder nicht.
Im Internet stößt man recht häufig auf das Thema. Besteht die Gefahr, dass eigentlich normale menschliche Verhaltensweisen – man empfindet vieles als zu laut, zu grell – gleich per Selbstdiagnose zu einer Krankheit gemacht werden?
Ich glaube, es ist wichtig, auf sich zu hören und seine Bedürfnisse und Herausforderungen zu kennen. Und jemand merkt, da ist ein Thema für mich, dann sollte man etwas tun. Wo genau diese Grenze liegt, ist individuell unterschiedlich. Was tut mir gut? Was brauche ich? Was belastet mich? Das sind für mich die richtigen und wichtigen Fragen.
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Es kann ja auch ein Schatz sein – zur Tür reinzukommen zu merken, dass in einer Gruppe etwas nicht stimmt!
Deshalb arbeite ich in meinen Coachings daran, das Empfinden zu drehen. Viele Menschen, die zu mir kommen, haben einen Leidensdruck. "Es ist so anstrengend, ich will, dass das aufhört!" – diesen Satz höre ich häufig. Und ich kann das verstehen. Aber Hochsensibilität und Hochsensitivität können ein Geschenk sein.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Mir ist oft alles zu laut. Aber ich liebe Musik und kann Nuancen in der Musik wahrnehmen. Gerade weil ich hochsensibel bin, kann sie mich förmlich wegtragen. Ich kann das Leben in den schillerndsten Farben sehen. Diese Buntheit ist toll! Ich kann spüren, wie es anderen Menschen geht, was ihnen guttun könnte. Das kann tricky sein, denn man möchte nicht übergriffig sein. Aber es ist ein Schatz. Hochsensitive Menschen können sehr gute Führungspersonen sein. Sie haben ein tolles Gespür für Menschen, können gut einschätzen, wer in einem Team für welche Position gut geeignet ist. Sie sind empathisch, haben oft einen sehr guten Überblick über das, was ansteht.
"Ich saß permanent im Gedankenkarussell"
Nina Brach
Und wie ging es Ihnen, als Sie es noch nicht als Schatz, sondern als Belastung empfunden haben, hochsensibel zu sein?
Als mein erstes Kind zur Welt kam, stieß ich total an meine Grenzen. Wir hatten ein Schreibaby. Das zwang mich dazu, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Den Begriff Hochsensibilität hatte ich schon einige Jahre zuvor aufgeschnappt. Meine Antennen waren einfach immer ausgefahren, ich saß permanent im Gedankenkarussell und habe alle möglichen Schwingungen und Stimmungen wahrgenommen. Einen Begriff dafür zu haben, war hilfreich, weil ich merkte: Ah, das gibt es? Dann bin ich ja gar nicht komisch oder verrückt! Aber mit neugeborenem Kind fiel mir trotzdem alles auf die Füße. Ich wusste schlicht noch nicht, was ich brauche und welche Strategien es gibt, um besser zurechtzukommen.
Und welche gibt es?
Mein Leitspruch ist: Macht es passend für euch! Viele gesellschaftliche Konventionen passen nicht für hochsensible Menschen. Wir müssen lernen, uns davon zu verabschieden.
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Besteht eine dieser Konventionen in dem Spruch: "Jetzt stell dich mal nicht so an!"?
Ja, genau. Oder: "Du brauchst einfach ein dickeres Fell, das ist doch alles gar nicht so schlimm!" Ist es aber eben doch, wenn es so empfunden wird! Zum Beispiel Familienfeiern: Es wird erwartet, dass man sich in die Gruppe einfügt und eine gute Miene macht. Für Menschen wie mich sind solche Situationen total anstrengend. Die Arbeitswelt ist ein anderes Beispiel. Großraumbüros? Für hochsensible Menschen kann es sehr schwierig sein, mit ganz unterschiedlichen Typen und Temperamenten auf engem Raum zurechtzukommen. Man fühlt sich schnell in die Ecke gedrängt – und beschwichtigende Sätze wie "Das war doch nicht so schlimm!" tun weh und brennen sich ein in die Seele. Es macht Arbeit, das hinter sich zu lassen.
Inwiefern?
Eine meiner Hauptaufgaben besteht darin, eine Kommunikationsebene zwischen hochsensiblen und hochsensitiven Menschen und denen, die es nicht sind, herzustellen. Es ist schwer, sich jeweils in den anderen hinzuversetzen. Ich sage hochsensiblen Menschen auch klar: Zieht euch nicht einfach darauf zurück, dass ihr hochsensibel seid und alle auf euch Rücksicht nehem müssen! Ihr dürft lernen, anderen klarzumachen, was das für euch bedeutet und auch selbst versuchen, euch in die andere Seite hineinzuversetzen.
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Man würde vermuten: Hochsensible Menschen ziehen sich zurück, schotten sich ab. Stimmt das?
Ja, das passiert oft, allein schon aus Selbstschutz. Ich empfehle: Sagt offen, warum ihr euch zurückzieht! Das macht vieles leichter. Man sollte proaktiv sein, vor die Welle kommen.
Man wird eingeladen auf eine Feier und weiß, dass es einem erfahrungsgemäß schnell zu viel wird. Kann man sagen: "Ich komme gern, aber mach dir keine Sorgen, wenn ich um 23 Uhr schon wieder gehe!"?
Absolut! Oder man nimmt sich schon vor der Familienfeier vor: Ich werde nicht mit allen sprechen, sondern nur mit Tante Ilse und meiner Cousine. Der erste Impuls von Hochsensiblen ist oft, zwar zur Feier zu gehen, sich dann aber gleich in eine Ecke zu verkrümeln. Und dann kann es erst recht passieren, dass man bedrängt und buchstäblich in die Ecke geredet wird. Es ist besser, proaktiv zu beschließen: Mit den Ilse und meiner Cousine möchte ich reden - und das reicht.
Hochsensible sind am liebsten im Homeoffice - Klischee oder Tatsache?
So zugespitzt ist es ein Klischee. Ich berate Unternehmen, wie sie am besten mit hochsensiblen Mitarbeitenden zusammenarbeiten können. Denn, wie gesagt, die können ein echter Schatz sein. Und ja, für manche ist schon die Option, in Ruhe zu Hause arbeiten zu können, eine Hilfe. Aber es gibt auch kluge Lösungen jenseits des Homeoffice.
Zum Beispiel?
Angenommen, alle in der Abteilung wissen, warum eine hochsensible Kollegin gern früh morgens vor allen anderen ins Büro kommt. Sie genießt schlicht die Ruhe, um Dinge abzuarbeiten, ehe all die Telefone klingeln und es laut wird. Dann kann man Konferenzen so legen, dass ihr davor entsprechend viel Zeit bleibt.
Wie kommen hochsensible Menschen in einer Zeit zurecht, in der sich eine Katastrophennachricht an die nächste reiht und in der autoritär auftretende, laute Menschen scheinbar unaufhaltsam an Macht gewinnen?
Das bereitet mir Kopfzerbrechen. Mit der Hochsensibilität geht sehr oft ein hohes Gerechtigkeitsempfinden einher. Wir Hochsensiblen denken oft vernetzt und sehr differenziert. Das heißt: Wenn ich als hochsensibler Mensch eine Nachricht lese, ist das für mich nie nur eine Nachricht. Menschen wie ich verketten im Kopf ganz schnell ganz andere Dinge mit neuen Entwicklungen...
...die Nachricht ist: Donald Trump ist US-Präsident. Aber bei Ihnen kommt an: Das macht Klimaschutz sehr viel schwieriger, also hat das fürs Klima, die Umwelt und uns Menschen nichts Gutes zu bedeuten?
Zum Beispiel, ja. Viele Hochsensible und Hochsensitive denken schnell und global. Ein Drama entspinnt sich in ihren Köpfen, wo andere erstmal nur eine Schlagzeile sehen.
Was raten Sie?
Ich empfehle, nur ausgewählte Medien zu ausgewählten Zeiten zu konsumieren. Mir persönlich fällt es leichter, mich über das Radio zu informieren, weil ich dann keine Bilder zu den Nachrichten habe.
Social Media ist vermutlich eine schlechte Idee?
Nicht unbedingt. Es gibt auch tolle Angebote, die Hochsensiblen gut tunund bei denen wir uns gut verstanden fühlen. Ich kenne auf Instagram einige schöne Kanäle, "werdegluecklich_" zum Beispiel. Oder "et.s.talk.mental" von Chris Gust. Und selbst versuche ich auch, auf meinem Kanal Tipps und Hinweise zu geben.
Nina Brach: Ein Hoch auf deine Sensibilität Wie du als hochsensibler Mensch zu zarter Stärke gelangst. Nymphenburger, 144 Seiten, 20 Euro