Am Montagabend hatten viele Synodale ein Déjà Vu-Erlebnis: Auf der Tagung der EKD-Synode, dem obersten Kirchenparlament der evangelischen Kirche, wurden Vorwürfe gegen die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs bekannt, sie sei Missbrauchs-Beschuldigungen gegen einen Pastor nicht ausreichend nachgegangen. Fehrs ist die amtierende EKD-Ratsvorsitzende und sollte am heutigen Dienstag zur offiziellen Ratsvorsitzenden gewählt werden. Vor einem Jahr hatten Missbrauchsvorwürfe auf der Tagung der EKD-Synode zu einem Rücktritt der damaligen Ratsvorsitzende Annette Kurschus geführt.
Vor einigen Wochen hatte ein Psychotherapeut einen Offenen Brief an die EKD-Synodalen geschrieben und Hamburgs Bischöfin Fehrs vorgeworfen, einen Missbrauchsfall nicht hartnäckig genug aufgeklärt zu haben. Die Synodalen sollten sie besser nicht wählen, so die Warnung des Psychotherapeuten.
Die Nordkirche, zu der Fehrs gehört, hat daraufhin in einem Brief an die Synodalen Stellung genommen. Man sehe "keinerlei Anhaltspunkte" für die Vorwürfe, heißt es in der Stellungnahme. Man arbeite den Fall seit Monaten auf und habe beschlossen, die Vorgänge "extern sichten und prüfen zu lassen". Die Stellungnahme und die Art und Weise, wie die Nordkirche den Fall aufarbeite, überzeugte die Wählenden. Kirsten Fehrs wurde am Dienstagvormittag wie geplant zur EKD-Ratsvorsitzenden bestimmt.
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Bereits am Montagnachmittag hatte sich die EKD-Synode mit dem wohl heikelsten Punkt ihrer Tagung beschäftigt: Mit der Frage, welche Konsequenzen die Kirche aus der Missbrauchsstudie zieht, die im Januar 2024 veröffentlicht wurde. Die Forschenden der sogenannten ForuM-Studie hatten Hinweise auf mindestens 1259 Beschuldigte und mindestens 2225 Betroffene im Raum der Kirche und der Diakonie seit 1946 gefunden und sprachen davon, dass dies nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs" sei. Detlev Zander und viele andere Betroffene hatten gehofft, dass diese erschütternden Erkenntnisse endlich zu einem großen "Ruck" in der Kirche führen würden. Dass Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, endlich richtig zugehört würde und dass ihre Forderungen akzeptiert und ohne Ansehen der Kirche erfüllt würden. Auch viele Kirchenleitende sagten damals, dass sie sich einen tiefgreifenden "Kulturwandel" wünschten.
"Der große Aufschrei ist ausgeblieben", sagte Detlev Zander am Montag auf der EKD-Synode. Zwar habe es Verbesserungen gegeben, aber keinen großen Ruck. Die Kirche ruckelt in kleinen und größeren Schritten voran: Die 20 Landeskirchen und 23 diakonischen Landesverbände haben sich endlich auf einheitliche Standards bei der Aufarbeitung der Fälle geeinigt. Eine Vernetzungsplattform für die Betroffenen ist an den Start gegangen. Das Disziplinarrecht wurde überarbeitet, und künftig können Betroffene Informationen bekommen, wenn ein Disziplinarverfahren gegen eine beschuldigte Pfarrperson eingeleitet wurde. Ab März 2025 soll es in allen Landeskirchen zudem einheitliche Regeln für Entschädigungszahlungen geben, überall soll das individuelle Schicksal die Grundlage für die nach oben offene Höhe der Entschädigung sein - plus ein Pauschalbetrag von 15 000 Euro, falls es sich um ein strafrechtlich relevantes Verbrechen handelte oder handelt. Auch eine Ombudsstelle soll eingerichtet werden.
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Es sind hart errungene Kompromisse, die im EKD-Beteiligungsforum ausgehandelt wurden. In diesem Gremium verhandeln Betroffene mit Kirchenvertretern und -vertreterinnen über alle Themen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und streiten bisweilen auch bis an die Belastungsgrenze um die Kompromisse. So betonten es am Montag beide Seiten.
Manche betroffenen Personen, die seit Jahren um Anerkennung und Aufarbeitung kämpfen müssen, empfinden diese Kompromisse als Zumutung. Einige von ihnen haben sich in der Initiative "Vertuschen verhindern" zusammengeschlossen und demonstrierten am Montag gegenüber dem Tagungshotel. "Moralische Insolvenzverschleppung ist unchristlich" stand auf ihren Fahnen. Sie fordern unter anderem mehr Mitbestimmung und externe Anlaufstellen. Und sie misstrauen jenen Betroffenen wie Detlev Zander und Nancy Janz, die sich im EKD-Beteiligungsforum mit Kirchenfunktionären an einen Tisch setzen.
"Wir arbeiten im Beteiligungsforum mit, weil wir Lösungen wollen", sagte Nancy Janz. Und Lösungen setzten Kompromisse voraus. Aber die Arbeit sei "ein Spagat", der viel Kraft koste. "Während uns die einen permanent vorwerfen, wir würden zu wenig machen, uns von der Kirche instrumentalisieren lassen oder den Kopf einziehen und höchstens unsere eigenen Interessen vertreten, werfen uns die anderen zunehmend vor, wir wollten die Kirche mit unseren Beschlüssen finanziell aushöhlen und strukturell zerstören", klagte Janz. Dass es daneben weitere Wege wie Demonstrationen gebe, seine Meinung und Forderungen laut werden zu lassen sei "absolut legitim und wichtig". Es müsse von allen Seiten Druck auf die Kirche ausgeübt werden.
Die Spannungen werden also bleiben, der Spagat wird weiter viel Kraft kosten – auch für die Kirchenvertreterinnen und -vertreter. Es wird vermutlich kein großer Ruck mehr durch die Kirche gehen, aber damit sich Dinge und gar eine ganze Kultur nachhaltig verändern, sind ja eben auch unendlich viele kleine Schritte nötig. Das Thema wird alle weiter beschäftigen, und das ist auch gut so. Darin zumindest sind sich alle einig.