"Tent of Nations" im Westjordanland
"Wir weigern uns zu hassen"
Der Palästinenser Daoud Nassar und seine Familie sind Übergriffen von jüdischen Siedlern im Westjordanland ausgesetzt. Die Farmer setzen auf gewaltfreien Widerstand - und auf internationale Gäste
Olivenbaeume wachsen auf dem Gelände der Farm "Tent of Nations"  im Westjordanland
Kaum 300 Meter vom Familienhaus der Nassars entfernt wächst die jüdische Siedlung Neve Daniel
Debbie Hill/epd-bild
Tim Wegner
03.07.2024
5Min

Am Eingang des "Tent of Nations" liegt ein Stein, auf dem steht: "Wir weigern uns, Feinde zu sein". Warum?

Daoud Nassar: Wie soll man auf eine Situation reagieren, in der man keine Hoffnung mehr hat und nicht weiß, wie es weitergeht? Ich finde, es gibt drei unterschiedliche Wege. Man kann mit Gewalt reagieren. Das ist nicht unser Weg. Man kann resignieren und abwarten, was passiert. Oder, drittens, man gibt auf und rennt weg. Wir haben uns gesagt: Es muss einen vierten Weg geben. Und das sagt die Inschrift auf dem Stein: Wir weigern uns, Opfer zu sein. Wir bleiben. Wir sind aktiv, bewirtschaften das Land. Wir laden Gäste ein, bei uns zu leben. Wir leisten einen konstruktiven, gewaltlosen Widerstand.

Daoud NassarNH

Daoud Nassar

Daoud Nassar ist Direktor des "Tent of Nations". Für sein gewaltloses Engagement erhielt er 2018 den deutsch-französischen Menschenrechtspreis.

Das stellt man sich schwierig vor nach jahrzehntelangem Kampf.

Wir möchten diese Ungerechtigkeit gewaltfrei bekämpfen und nicht in eine Opfermentalität verfallen, obwohl wir uns in einer unmöglichen Situation befinden. Ich könnte stundenlang erzählen, wie schwierig die Lage ist: Die israelischen Bulldozer arbeiten auf unserem Gelände. Aber wir weigern uns zu hassen, und niemand kann uns zum Hass zwingen. Diese Überzeugung kommt aus unserem christlichen Glauben. Wir sind Menschen, die an Gerechtigkeit glauben. Mit Prinzipien sind wir stärker geworden.

Wie können Sie auf Ihren 42 Hektar Landwirtschaft betreiben, wenn um Sie herum jüdische Siedlungen entstehen?

Wir brauchen Wasser, aber Wasser ist nicht unter unserer Kontrolle. Die Siedlungen neben uns blühen wie Oasen in der Wüste. Aber für uns gibt es keine Wasserleitungen. Deswegen pflanzen wir Bäume an, die nicht so viel Wasser brauchen: Mandeln, Oliven, Feigen. Und Weinstöcke. Wir haben auch ein kleines - sozusagen - Gewächshaus für unseren Gebrauch. Wir sind total vom Regenwasser abhängig und sammeln es in Zisternen. Elektrizität gewinnen wir mit Hilfe unserer Solaranlage. Wir müssen kreativ sein.

Am 7. Oktober griff die Hamas Israel an. Seitdem tobt in der Region ein Krieg. Was haben Sie als Palästinenser in den vergangenen Monaten erlebt?

Unsere Lage hat sich verschlimmert, aber auch vorher war die Situation angespannt. Gruppen, die uns besuchen wollten, konnten vor dem 7. Oktober über die Straße, die Jerusalem mit Hebron verbindet, anreisen. Dieser Weg ist blockiert. Wir müssen einen längeren Weg durch die Dörfer nehmen. Man will uns isolieren, weil man weiß: Unsere Stärke ist die internationale Präsenz, unsere Stärke sind die Gäste.

Was genau geschieht?

Am 13. März haben die Siedler damit begonnen, eine Straße zu bauen, im Tal zwischen einem Hügel, der zu unserem Land gehört, und einem Hügel, auf dem eine Siedlung steht. Die Straße zerschneidet unser Land von der östlichen Seite her. Die offizielle Begründung ist, dass die Straße Sicherheitszwecken diene. Unser Rechtsanwalt hat vorm Militärgericht geklagt, aber keine Antwort bekommen. Also sind wir weiter bis zum Obersten Gerichtshof in Israel gezogen. Das ist ein ziviles Gericht. Und am 21. April haben wir ein Urteil bekommen, das besagt: Der Staat Israel darf keine Arbeiten auf unserem Gelände vornehmen. Es ist schwierig auseinanderzuhalten - Militär, Siedler, Security, das gehört alles zusammen und ist für uns schwierig zu trennen.

Halten die Siedler sich daran?

Nein, es kommt immer wieder zu Arbeiten auf unserem Gelände. Das Urteil wird nicht respektiert. Wir versuchen, alles zu dokumentieren. Und wir brauchen eine politische, internationale Unterstützung. Sonst werden wir es nicht schaffen.

"Die Präsenz internationaler Gäste ist wichtig. Sie schützt uns."

Daoud Nassar

Was erleben Sie, wenn Sie auf Ihrem Land unterwegs sind?

Schon immer seit 1991 haben Siedler Bäume zerstört. Einmal waren es mehr als 250 Olivenbäume. Wir haben wieder neue Bäume gepflanzt. Neun davon übrigens mit Hilfe einer Organisation aus England, sie heißt "Europäische Juden für gerechten Frieden in Palästina". Sie sagten, was uns geschehe, geschehe nicht in ihrem Namen. Und haben die Bäume mit uns gepflanzt. Ein anderes Mal kamen israelische Bulldozer und haben Plantagen zerstört, zehn Tage vor der Aprikosenernte. Aber wir haben nicht aufgegeben. Es gab immer schon Übergriffe, aber seit wir im Jahr 2002 angefangen haben, Gäste im "Tent of Nations" zu haben, wurden die Übergriffe gestoppt. Das zeigt, wie wichtig internationale Präsenz ist. Sie schützt uns. Was wir nun erleben, ist ein schlimmer Rückfall. Die Situation seit dem 7. Oktober hat sich verschlechtert, weil nicht mehr so viele Freiwillige zu uns kommen können. Derzeit sind vier Menschen bei uns, es könnten zwischen zehn und 15 sein.

"Christliche Orte werden von jüdischen Siedlern angegriffen": Lesen Sie hier ein Interview mit der Theologin und Podcasterin Johanna Haberer über Christen in Israel

Können Sie ein Beispiel geben?

Ich habe im Februar mit einem Freiwilligen auf dem Land gearbeitet. Siedler kamen. Sie waren bewaffnet. Es war bedrohlich. Sie waren bereit, auf uns zu schießen. Ich sagte: "Ich habe einen Gast aus einem anderen Land hier bei mir." Dann sind sie ruhiger geworden.

Und Sie selbst sind unbewaffnet?

Ja. Wir haben eine Klarheit: keine Gewalt! Bewaffnet sind wir nur mit unserem Glauben.

Erfahren Sie Zuspruch von Jüdinnen und Juden in Israel?

Ja. Aber im Moment ist es für die Friedensaktivisten oder Menschenrechtsorganisationen in Israel auch sehr schwierig und der Friedensblock ist leider derzeit schwach. Trotzdem gibt es Organisationen, die auf der Seite der Gerechtigkeit stehen und auch das Leid der Palästinenser anerkennen. Ich denke, Religion und Politik müssen voneinander getrennt sein.

Wie meinen Sie das?

Wenn Religion und Staat, also das System, zusammengemischt werden, haben wir ein Problem. Religion kann für politische Zwecke missbraucht werden. Deswegen sagen wir: Wir weigern uns, Feinde zu sein, denn manchmal sind die Menschen Opfer eines Systems. Es ist unsere Aufgabe, ihnen die Augen zu öffnen, dass wir alle Menschen sind. Deshalb arbeiten wir mit Menschen, die viele verschiedene Hintergründe haben. Um zu zeigen: Wir sind offen gegenüber allen Menschen, die uns besuchen und die unsere Arbeit respektieren.

Haben Sie Hoffnung auf Frieden in der Region?

Es ist ein langer Weg. Die Wunden müssen geheilt werden. Aber ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben. Deswegen ist es sehr wichtig, mit Menschen zu arbeiten, Verständigung zu schaffen, an Gerechtigkeit zu glauben und alles dafür zu tun. Glaube, Hoffnung und Liebe sind die Fundamente unserer Arbeit. Wenn Freiwillige uns für eine Zeit besuchen - eine Woche oder zwei -, erleben sie, wie schwierig die Lage bei uns ist. Aber trotzdem sind wir positiv. Das ist unsere Idee, wie wir Menschen für eine bessere Zukunft motivieren können.

Das Interview mit Daoud Nassar fand im Juni 2024 in der Mennonitengemeinde Frankfurt statt. Dort hatten wir Gelegenheit, den Farmer zu befragen. Er war auf Einladung des Zentrums Ökumene der EKHN und EKKW in Kooperation mit der Mennonitengemeinde Frankfurt im Rhein-Main-Gebiet unterwegs.

Infobox

Das "Tent of Nations" im Westjordanland

Das "Tent of Nations" (ToN) oder auch "Zelt der Völker" ist ein Friedensprojekt in einem zerrissenen Land. Das Ehepaar Daoud und Jihan Nassar lebt und arbeitet auf seiner Farm, die im Westjordanland liegt. Die Nassars sind evangelisch-lutherische Christen.

Das Westjordanland hat eine lange Geschichte. Bereits in der Bibel gilt es als Siedlungsgebiet verschiedener Völker. Von der UN-Vollversammlung wurde das Westjordanland als Bestandteil des britischen Völkerbundmandats für Palästina im Teilungsplan von 1947 dem zu gründenden arabischen Staat zugesprochen. Die Resolution sollte dabei helfen, den Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebiets Palästina zu lösen. Später wurde das Gebiet von Jordanien besetzt.

Im Sechstagekrieg vom Juni 1967 wurde es von Israel erobert und steht seither unter israelischer Militärverwaltung. Nach dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel im Oktober 2023 kommt es im Westjordanland wiederholt zu Übergriffen auf palästinische Bauern durch jüdische Siedler.

1991 erklärten die israelischen Behörden den Hof der Familie Nassar und das umliegende Gebiet zu "Staatsland". Dagegen geht die Familie juristisch vor. Mittlerweile umgeben jüdische Siedlungen die Farm von allen Seiten. Seit 2002 empfängt das ToN Freiwillige aus aller Welt, die für einige Tage, Wochen oder Monate im ökologischen Landbau mithelfen und die Geschichte der Region kennenlernen möchten. Seit mehr als 30 Jahren kämpft das Paar vor Gerichten darum, dass es offiziell als Besitzer des Landes - die Familie Nassar bewirtschaftet es seit 1916 - anerkannt wird.

Immer wieder wird die 42 Hektar große Fläche attackiert, immer wieder sehen sich die Nassars Bedrohungen ausgesetzt. Anfang Juli musste die Familie einen erneuten Rückschlag hinnehmen: Eine für den 1. Juli terminierte Sitzung des Registrierungsausschusses der israelischen Zivilverwaltung im Westjordanland wurde abgesagt. Damit muss die Familie weiter in Unsicherheit leben.