Literatur
"Ich habe geträumt, dass ich erschossen werde"
Wie sich die Kriegstraumata seiner Eltern auf ihn auswirkten. Und was er verstand, als er darüber schrieb: der Schriftsteller Ralf Rothmann
Frank Rothmann sitzt an einem Tisch
Ralf Rothmann
Dirk von Nayhauß
Dirk von Nayhauß
16.05.2024
3Min

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Ralf Rothmann: Wenn ich arbeite, wenn mir etwas gelingt, das sind die schönsten und lebendigsten Momente. Dann bin ich ­meis­tens selbst erstaunt und denke: Mein Gott, wie ist mir jetzt das passiert, woher kommt das? Man kann sich eine Geschichte oder einen Charakter ausdenken, aber diese ­Stellen, die alles aufleuchten lassen, die kommen von irgendwoher – und dann bleibt einem nichts als Dankbarkeit.

Ralf Rothmann

Ralf Rothmann, 1953 geboren, zählt zu den wichtigsten ­deutschen Autoren. Er wuchs im Ruhr­gebiet auf, sein Vater war Bergmann. Sein Roman über die ­letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs "Im Frühling sterben" ist in 25 Sprachen ­übersetzt worden. ­Zuletzt erschienen bei Suhrkamp "Die Nacht unterm Schnee" und "Theorie des Regens". ­Rothmann erhielt ­zahlreiche Preise für seine Erzählungen und Romane.

Was haben Sie von Ihren Eltern geerbt?

Jahrelang habe ich geträumt, dass ich erschossen werde. Das erzählte ich einem befreundeten Arzt, und der meinte: Das ist wahrscheinlich die Angst deines Vaters im Krieg, man erbt diese Traumata. Mir wurde erst relativ spät klar: Die Traumata meiner Eltern könnten Teil meiner Macken sein. Meine Mutter wurde als 16-Jährige vergewaltigt, ­später hat sie ihre Kinder bis aufs Blut geprügelt. Seltsamer­weise habe ich sie jedoch nie gehasst, vielleicht bin ich auch kein Mensch, der wirklich hassen kann, aber ich hatte natürlich Schwierigkeiten, sie zu lieben. Ihr ­Wesen habe ich erst verstanden, als ich "Die Nacht unterm Schnee" schrieb, in dem Roman wird eine Frau von russischen Soldaten vergewaltigt, ein Leid, das sie oft unempfindlich machte für das Leid, das sie anderen zufügte.

Was machte Großvater in der Nazizeit? Lesen Sie hier eine Anleitung zur Recherche

Der Zweite Weltkrieg und die Gräuel: immer gegenwärtig?

Mein Vater war ein schweigsamer Bergmann. Beim sonntäglichen Frühstück saß er immer im Unterhemd, dadurch sah man diese Tätowierung am Oberarm, die Blutgruppennummer der SS. Als ich acht, neun Jahre alt war, fragte ich: Hast du geschossen? Darauf er: Na klar, jeder hat geschossen. Und dann – Kinder können ja ­erbarmungslos sein – habe ich gefragt: Hast du jemanden getötet, hat der geblutet, hat der geschrien? Ich bekam keine Antwort, meine Mutter sagte: Geh dein Zimmer aufräumen! Mein Vater, absolut gutmütig und seinerzeit zwangsrekrutiert, hat sich dann 30 Jahre unter Tage vergraben und wollte von nichts mehr irgendetwas wissen. Dieses Gewicht der Melancholie, das auf ihm lag, hat mich selbst depressiv gemacht, als ich "Im Frühling sterben" schrieb. Nachdem das Buch schließlich fertig war, dachte ich: Jetzt ist seine Silhouette für mich wahrnehmbarer.

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Gott ist nichts, was man sich vorstellen kann. Oder umgekehrt: Alles, was wir uns vorstellen können, kann nicht das Absolute sein. Ich könnte ihn mir als eine Energie denken jenseits von allen Wörtern, Bildern, Symbolen, als eine vierte Dimension. Aber es gibt diese Situationen, vor einer schweren Entscheidung oder einem wichtigen Brief etwa, da ereignet sich ein Wink oder ein helfendes Zeichen, und dann merke ich: Du bist begleitet, da ist ein liebendes Geschick, wie Goethe es gesagt hat.

Muss man den Tod fürchten?

Den Tod muss man nicht fürchten, das ist mir schon früh klar geworden. Mein Großvater hatte ein Beerdigungsunternehmen, mein Vater hat ihm oft beim Überführen der ­Leichen geholfen, im Leichenschauhaus wurden sie aufgebahrt, mit Blumen umkränzt. Ich war als Kind dabei, schon mit sechs Jahren, und habe mir die Toten sehr genau angeguckt. Da war das Jenseits spürbar und Angst hatte ich keine. Aber das Sterben zu respektieren, das musste ich lernen, als ich drei Jahre im Krankenhaus als Pflegehelfer gearbeitet habe. Ich habe Todesarten kennengelernt, da versagte jede meiner bisherigen Vorstellungen. Himmelschreiend.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Die Liebe zu meiner Frau hat sich seit 40 Jahren als das Beste und Schönste herausgestellt, was mir je im Leben passiert ist. Wir sind beide in der Bücherwelt zu Hause, es ist ein Wechselspiel, wir inspirieren uns gegenseitig. Und dann ist da die Liebe zur Arbeit, natürlich, zur Sprache und ihrem musikalischen Geist. Freude gewinnen und Freude bereiten – das ist ein recht naiver Antrieb, aber auch ein machtvoller.

Was ist Glück?

Für mich? Halbwegs mit mir selbst im Reinen zu sein. Und vor allem das Zusammensein mit Menschen, die ich liebe, die mich lieben. Aber Glück ist natürlich nichts, was sich permanent ereignet, es ist die eine Seite der Medaille, und man wird nicht glücklich sein, wenn man sein Leben lang den Schmerz vermeidet.