Weltweit demonstrieren Menschen ihre Solidarität mit der getöteten Jina Mahsa Amini und den Frauen im Iran
Weltweit demonstrieren Menschen ihre Solidarität mit der getöteten Jina Mahsa Amini und den Frauen im Iran
Fritz Engel/laif
Frauen im Iran
"Das hier ist ein revolutionärer Prozess"
Auch ein Jahr nach dem Mord an der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini geben die Demonstrierenden nicht auf. Die iranisch-deutsche Moderatorin und Journalistin Susan Zare berichtet, wie es den Demonstrierenden aktuell ergeht
Tim Wegner
11.09.2023
5Min

Wie engagieren Sie sich für die iranische Protestbewegung?

Susan Zare: Ich versuche als Moderatorin und Journalistin, die Situation in Deutschland greifbar zu machen und zusammen mit anderen in der Diaspora ein Schallverstärker für die Stimmen der Menschen im Iran zu sein. Ich habe mich beruflich immer viel mit der iranischen Gesellschaft und Kultur beschäftigt. Politisch habe ich mich rausgehalten. Dieses Gefühl "Ich schau weg, um meine Familie und mich zu schützen" schien ein guter Weg. Aber zu Beginn der Bewegung um Jina Mahsa Amini fühlte sich einzig richtig an, gemeinsam zu versuchen, etwas zu tun. Mit allen Verlusten und aller Gefahr, die dazu gehören.

Welche Gefahr fürchten Sie?

Ich kann nicht mehr in den Iran einreisen. Denn es gibt keine Unterlagen, die einem sagen, ab welchen Aktivitäten man nicht mehr einreisen kann, an welche Auflagen man sich halten müsste oder was man riskiert. Ich weiß von anderen, deren Angehörige ermordet oder verhaftet wurden oder Berufs- und Studierverbote bekamen. Anderen wurden gedroht, falls sie die Angehörigen in der Diaspora nicht zum Schweigen brächten. Teilweise haben Mitarbeitende staatlicher Behörden meine Kolleginnen direkt angerufen und bedroht. Über gewisse Dinge können oder wollen wir, die Angehörige im Land haben, daher nicht sprechen. Deswegen ist Solidarität so wichtig.

Sabine Koppers

Susan Zare

Susan Zare, geboren 1991, besitzt die deutsche und die iranische Staatsbürgerschaft. Als freie Moderatorin und Journalistin arbeitet sie unter anderem für den Deutschlandfunk, auch zu Themen aus dem Iran. Sie studierte Musikwissenschaften und Sprachen und Kulturen der islamischen Welt, auch ein halbes Jahr im iranischen Shiraz, und organisierte Gruppenreisen in den Iran. Seit Beginn der Proteste 2022 engagiert sie sich für die Demonstrierenden.

Vor einigen Wochen noch waren auf Fernsehaufnahmen einige Frauen auf Teherans Straßen mit offenem Haar zu sehen. Was riskieren sie?

Ein großer Teil der Bevölkerung zeigt sehr mutig stillen Protest: Frauen sind ohne Kopftuch auf den Straßen unterwegs, viele Männer missachten die Kleiderordnung, indem sie beispielsweise kurze Hosen tragen. Denn die Sittenpolizei war nie weg – auch wenn das Regime versucht, durch Propaganda die Wahrnehmung im Ausland zu beeinflussen. Andere staatliche Gruppierungen hatten die Arbeit der Sittenpolizei übernommen! Das Regime ist ein unfassbarer Machtapparat: Allein die Revolutionsgarde, die 2019 schon geschätzt 190.000 Mann stark war, dazu Politik, Polizei und Sittenpolizei, Militär und Milizen – ganz zu schweigen vom digitalen Einsatz. Immer wieder sehen wir auf Videos, welche Gewalt bei Verhaftungen angewendet wird. Wenn es schlecht läuft, nehmen sie die Frauen und Männer mit, bringen sie in Haft oder Umerziehungsanstalten.

Seit Juli ist die Sittenpolizei offiziell wieder da – hat sich an ihrem Vorgehen etwas geändert?

Es wird jetzt viel digital gearbeitet, mit KI, mit Überwachungssystemen und Gesichtserkennung. SMS werden an Frauen verschickt und setzen sie unter Druck. Man schließt Läden, in denen Frauen ohne Kopftuch bedient werden. Die neuen Gesetze, die jetzt diskutiert werden, sind ein krampfhafter Versuch des Staates, den Druck zu erhöhen.

Um welche Gesetze geht es da?

Vor allem geht es um das sogenannte Kopftuchgesetz, das siebzig Artikel hat. Es verbietet auch Männern, kurze Hosen zu tragen, Küssen, Händchenhalten oder Tanzen in der Öffentlichkeit. Dieses Gesetz besteht seit Beginn der Islamischen Republik Iran. Neu sind noch höhere Geldstrafen, Berufsverbot, bis zu 15 Jahre Haft und der Einsatz von KI. Sollte das Kopftuchgesetz fallen, dann könnte das das Ende des Regimes bedeuten. Hier geht es nicht um eine Reform des Systems, sondern um eine Revolution.

"Mehr und mehr Menschen entschließen sich, gegen diesen Machtapparat zu stehen"

Seit der Revolution 1979 ist das Kopftuch Pflicht für Frauen.

Und seitdem protestierten Frauen mutig dagegen. Schon immer war das Kopftuch nur ein Sinnbild. Es geht um Freiheit, darum, dass Frauen selbst entscheiden wollen, was sie tragen. Frauen dürfen im Iran so vieles nicht, sie sind benachteiligt, beispielsweise im Zeugenrecht, im Ehe- und Scheidungsrecht oder Sorgerecht. Sie dürfen Berufe wie ein Richteramt nicht ausüben. Schon immer war die Unterdrückung der Frau ein Machtwerkzeug, um Druck auf ein ganzes Land auszuüben. Wichtig ist: Damals wie heute geht es nicht um die Bekämpfung des Islams, sondern um die Trennung von Staat und Religion und dass Religion nicht als Machtwerkzeug instrumentalisiert wird.

Was bewirken die Verschärfungen der Gesetze bei den Demonstrierenden?

Nachdem die Gewalt des Regimes immer mehr zunahm und Tausende Demonstrierende festgenommen wurden, hat sich der Protest gewandelt und zeigt sich auf viele Arten: Manche besprühen Wände und Autos, rufen von Dächern, beschriften Geldscheine, andere tanzen und stellen die Videos davon online, einige Café-Besitzer sind stolz, Menschen zu bedienen, die die Regeln nicht befolgen, trotz der Gefahr, dass ihr Café geschlossen wird. Der Mut und der Zusammenhalt wachsen: Mehr und mehr Menschen entschließen sich, gegen diesen Machtapparat zu stehen. Sie verbinden sich über die politischen Lager, Schichten, Altersgruppen, Religionen und Ethnien hinweg. Das hat es so noch nicht gegeben.

Wie äußert sich das?

Man sieht in Videos, dass sich Frauen lautstark und körperlich wehren, wenn die Sittenpolizei auf sie zugeht. Einige warten geradezu darauf, die Sittenpolizei anzubrüllen und sich ihr entgegenzustellen. Es gibt Berichte von Menschen, die kaum aus der Haft entlassen gleich vor dem Gefängnis brüllen: "Tod diesem System."

Extrem mutig!

Ja. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass die Regierung dieses Jahr mehrere Hundert Menschen erschießen ließ, es gab rund 20.000 Demonstrierende in Haft, in den letzten Monaten wurde durchschnittlich alle sechs Stunden jemand im Iran hingerichtet. Auch mit der Verhaftung prominenter Iraner, die sich solidarisch zeigen, versucht das Regime, die Menschen einzuschüchtern. Der Rapper Toomaj Salehi wurde gefoltert. Allerdings kann man Prominente wie ihn nicht so leicht einfach verschwinden lassen. Daher ist es auch so wichtig, die Namen der Inhaftierten zu nennen und ihre Geschichten zu erzählen. Bemerkenswert viele Intellektuelle sind in Haft, auch Wissenschaftlerinnen, Naturschützer. Viele sagen deshalb, dass die iranischen Gefängnisse Akademien sind.

"Der revolutionäre Prozess wird in Wellen kommen"

Was sind die Schwächen des Regimes?

Die Propaganda im staatlichen Fernsehen bröckelt. Zum Beispiel wurde das Staatsfernsehen einmal gehackt. Manchmal waren die Lügen so groß, dass die Menschen vieles nicht mehr glauben. Eine Stärke, aber auch eine unglaubliche Schwäche ist ihre Gewalt. Denn selbst für viele, die sich mit ideologischen Inhalten anfreunden konnten, ist hier eine Grenze erreicht, immer mehr sagen: "Wenn ich sehe, dass junge Menschen wegen ihres Protests hingerichtet werden, dann möchte ich nicht mehr Teil dieses Systems sein."

Die UN hat ein Kontrollgremium für die Menschenrechte im Iran beauftragt, seit Jahren ist der Iran mit Sanktionen belegt. Welche Hebel hat die Weltgemeinschaft, von außen einzuwirken?

Diese Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates kann helfen, Täter zu identifizieren. Aber letztendlich hat das eher symbolischen Charakter. Viele fordern, dass die Revolutionsgarde, die lobbyistisch weltweit Macht und Einfluss hat, auf die Terrorliste gesetzt wird. Das wäre wirkungsvoller, als Einzelpersonen zu sanktionieren. Die bestehenden Sanktionen, das Einfrieren von Vermögenswerten und Einreiseverbote, bleiben wichtig und auch die Frage, inwiefern man mit einem System verhandeln möchte, das so menschenrechtsverachtend arbeitet.

Am 16. September jährt sich der Mord an Jina Mahsa Amini zum ersten Mal. Nehmen die Proteste zu?

Aktuell ploppen schon wieder Streiks und Proteste auf und in den sozialen Medien wird verstärkt diskutiert. Ich rechne mit Demonstrationen. Der Jahrestag wird diesen revolutionären Prozess noch mal aufheizen. Dieser revolutionäre Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. Er wird in Wellen kommen, mal weniger, mal mehr sichtbar. Aber er ist kaum zurückzudrehen.