Kinderklinik - Die Löwinnen
Mila und ihre Mutter Jana Bütow
Sandra Stein
Krankheit in Isolation
Die Löwinnen
Wenn ein Kind Krebs hat - immer schon schlimm genug. Unter Corona war es ein Alptraum
Tim Wegner
Sandra SteinPrivat
25.04.2022
7Min

Schafe! Als Sofia, 2, auf den saftig grünen Poller Wiesen am Rhein­ufer zum ersten Mal eine Schafherde sieht, flippt sie fast aus vor Freude. Und als ihre Mutter Judith Schümmer davon erzählt, läuft ihr eine Träne übers Gesicht. Die Mutter ist zum ersten Mal seit Corona im Café, das Kind hat zum ersten Mal Tiere gesehen. Es gibt jetzt viele erste Male für Mutter und Tochter, denn sie waren fast ein Jahr im Krankenhaus auf der Krebsstation. Eingesperrt, man kann es nicht anders sagen.

Kinder und Krebs, das ist immer ein welt­umstürzendes Drama. Kinder und Chemotherapie und zeitgleich Corona – "das ist ein Alptraum für die Familien", sagt Meinolf Siepermann, Leiter der Kinderonkologie im Kölner Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße, einem der größten in Deutschland. Der Arzt sorgt sich nicht nur um die Psyche der kleinen Kinder – "die erleben in ihrem kindlichen Verständnis den Alltag auf ­Station als neue Lebensrealität, sie denken, anderen Kindern ergeht es wie ihnen". Er sorgt sich auch um Eltern, Geschwister, Großeltern, Ver­wandte und Freunde. Brüder und ­Schwestern, die zu Vor-Corona-Zeiten mit dem ­erkrankten Kind im Krankenbett gekuschelt oder im Spiel­zimmer Lego gebaut hatten: Jetzt ­durften sie aufgrund von Besuchs­verboten monatelang nicht rein. Eltern mussten sich neu auf­teilen – im Krankenhaus und in der Außenwelt. Das belaste oftmals die Paar­beziehung, sagt Siepermann, aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven – "beim Kind" oder "außen vor". Väter kümmern sich häufig um Geschwister, Arbeit und Haushalt. Die Mütter bleiben Tag und Nacht beim Kind – ohne Pause.

Sofia und ihre Mutter Judith Schümmer: Endlich draußen – nach fast einem Jahr im Krankenhaus

Die Mütter, sagt der leitende Onkologe, sind echte Heldinnen. "Sie kämpfen sich durch ­diese Zeit wie Löwinnen und würden nie sagen: Ich kann nicht mehr."
Zwei Löwinnen haben wir getroffen, Judith Schümmer und Jana Bütow. Sie kennen sich gut, auch wenn sie sich selten im Flur begegnen durften und schon gar nicht berühren. "Das ist das Schlimmste", sagt Judith, "wenn die andere gerade eine niederschmetternde Diagnose bekommt und du darfst sie nicht in den Arm nehmen." Frauenfreundschaft im Krankenhaus, das heißt: Im Bett liegen, mit dem Kind auf dem Bauch, ins Handy tippen: "Welche Schwester hat heute Dienst? Ah, ­Marta, cool." Heißt aber auch, sehnsüchtig sein nach dem Schicksal der Zimmer­nachbarin. Weil die auch mal duschen kann. Weil deren Kind auch mal schläft. Und einen "nicht so schlimmen Krebs" hat, völlig klar, wie seltsam das klingt, sagt Judith. "Man kam sich manchmal doof vor zu weinen, weil andere Kinder ja einen noch schlimmeren Krebs hatten."

"Ich war noch nie in meinem Leben so allein"

Judith Schümmers Tochter Sofia hat ein Neuroblastom, eine Krebserkrankung des Nervensystems. Jana Bütows Tochter Mila hat Leukämie. Beide sind kurz vor Corona ge­boren, beide kommen 2020 als Kleinstkinder ins Krankenhaus für viele Monate. Sofia lernt laufen, indem die Mutter den Infusionsbaum vor sich herschiebt, das Kind immer am Schlauch. Wenn im Spielzimmer ein Bauklotz auf den Boden fällt, muss er desinfiziert werden. Macht keinen Spaß. Gespielt wird also mit Verbandszeug, mit Plastikspritzen und Mullbinden. Sofias erstes Wort heißt "Haare". Die sie selber nicht hat, die Fotogalerie auf dem Handy – bei anderen Müttern voller Lach- und Spaßfotos – besteht aus vielen Bildern eines ernsten kleinen Glatzkopfs.

Für beide Mütter begann ein Leben, das im krassen Gegensatz zu allem stand, was sie sich vorher vorstellen konnten. "Ich war immer ein freier Mensch", sagt Judith Schümmer, 42, Reiseverkehrskauffrau. Die große Frau mit der wilden Lockenmähne ist allein durch Australien und Japan gereist, "und wenn es mir einfiel, dann fuhr ich spontan nach Hawaii".

Jetzt war sie auf wenigen Quadratmetern eingesperrt und freute sich schon, wenn ­Sofia endlich mal kurz ruhig blieb und sie selbst in die Klinikküche durfte, um sich ­einen Salat zu machen. Das Ronald-McDonald- Haus, wo Mütter zu normalen Zeiten einen Kaffee trinken konnten, war wegen ­Corona geschlossen. Der Vater des Kindes er­krankte zeitgleich, er ist nicht verfügbar. Sie ist im Kranken­zimmer am Rande ihrer Kräfte, schläft kaum, ist immer unter Strom. "Ich war noch nie in meinem Leben so allein." Die ­Psychologin rät, kleine Glücksmomente zu sammeln. Die Duftlampe, der Pfefferminztee. Die frisch gebackene Waffel, die die Klinik­seelsorgerin vorbeigebracht hat. Man muss es wirklich suchen, das Glück.

"Bei mir kam einfach keine Träne. Ich musste ja der ruhige Hafen sein"

Bei ihrer Zimmernachbarin Jana Bütow ist der Vater gesund und engagiert. Aber von jetzt auf gleich so gut wie abgemeldet. "Wir wollten uns die Kinderbetreuung eigentlich fifty-fifty teilen", sagt die Kulturmanagerin, 36, lange Haare, wacher Blick. "Und dann war es plötzlich so: ich hundert, er null." Denn die Klinik kann wegen Corona nur entweder Mutter oder Vater aufnehmen. Und wenn Mutter und Kind mal für ein paar Tage nach Hause dürfen, "dann hatte mein Partner kaum eine Chance". Das Kind ist auf die Mutter fixiert, als die beiden zum ersten Mal nach Hause dürfen, schläft der Vater auf einer Matratze im Wohnzimmer.

Chefonkologe Meinolf Siepermann: "Wir mussten uns vor Corona schützen – aber es tat oft im Herzen weh"

Jana Bütow trägt ein M an einer Kette um den Hals. "Alle Tränen", sagt sie, "die Mila geweint hat, habe ich getrocknet, nicht der Papa." Und es waren viele. "Mila hatte dieses besondere Weinen, sie war manchmal ganz außer sich." Mama beruhigt, tröstet, selber behält sie immer die Fassung. "Bei mir kam einfach keine Träne", sagt sie, "ich musste ja der ruhige Hafen sein für Mila."

Nicht nur die Väter, auch die Großeltern mussten draußen bleiben. So fehlt nicht nur die Entlastung, die man sonst durch Großeltern hat, sondern Oma und Opa müssen auch noch beruhigt werden. "Ich kam mir vor wie ein Sendemast", sagt Jana. Klar kann man das organisieren, Whatsapp-Gruppen einrichten, feste Telefonzeiten fixieren. Und der Opa hat für Facetime auch mal ein Video mit einem Kasperle aufgenommen, das war toll. "Aber ich war immer die Botschafterin."

Wie segensreich, wenn Freunde doch mal eine nicht digitale Botschaft überbrachten. Ein Schraubdeckelglas mit Rotwein an der Klinik­rezeption abgaben. Oder Sandförmchen in der Tupperdose. Wie gut, dass die Seel­sorgerin immer kommen durfte, mit zwei Kaffees im Pappbecher, "die hatte immer alle Zeit der Welt".

Was alle Familien mit kleinen Kindern stresst, ist für die einsamen Mütter doppelt und dreifach anstrengend. Warum schreit das Kind? Hat es Fieber? Ist es nicht arg blass? Zu normalen Zeiten berät man sich mit dem ­Partner, fragt die Oma um Rat. Was meinst du? Ist das komisch oder reicht ein "Rotbäckchen" vom Ökoladen? In Sachen Homöopathie ist ­Familie Bütow ernüchtert. "Ich war früher auf ­Globuli", grinst Jana Bütow, "jetzt gebe ich meinem Kind eine rosa Flüssigkeit, auf der steht: Bitte nicht im Hausmüll entsorgen."

Mila und ihre Mutter Jana. Der Krebs ist geheilt. Aber die Familie bleibt in Habachtstellung. "Beim geringsten Fieber sind wir völlig außer uns"

Die Chemie hat beide Kinder geheilt. Nach vielen Chemozyklen endlich die Diagnose: krebsfrei. Es gab einen großen Abschied, ­eine Glocke läutete, die Ärzte und Schwestern winkten "La Ola", sie klatschten und überreichten Tapferkeitsorden.

Beide Mütter arbeiten inzwischen wieder in ihren Berufen, sie müssen nur noch zur Kontrolle in die Klinik, bei Familie Bütow kann das endlich der Vater übernehmen. ­Also alles normal? Sie seien immer noch in Hab­achtstellung, sagt Jana Bütow. "Als Mila neulich Fieber hatte, waren wir völlig außer uns. Dabei hat sie vermutlich nur Zähne gekriegt."

Beide Mütter schwören auf das Klinikpersonal. Mega. Die Rettung. Einfach Wahnsinn. Und merken doch jetzt, wo Corona bald und der Krebs hoffentlich endgültig vorbei sind, wie erschöpft sie sind. "Mein Optimismus", sagt Jana Bütow, "steht auf tönernen Füßen."

Im Krankenhaus wird sich hoffentlich die Corona-Lage bald entspannen. Und man wird sich die Geschichten von Einsamkeit und Isolation nur noch erzählen: von den Kindern, die sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen während der Therapie auch mit Corona ansteckten. Eine Mutter war drei lange Monate auf der Corona-­Infektionsstation eingeschlossen mit ihrem sechsjährigen Sohn. Die Chemotherapie sorgte dafür, dass der Test fast 90 Tage positiv blieb. Mutter und Kind sahen von einem auf den anderen Tag nur noch Pflegepersonal und Ärzte in Schutzkleidung mit Visier und Maske, wie "vermummte Marsmännchen", so Siepermann. Wochenlang in einem Zimmer. Eine ­harte Zeit, wie im Gefängnis. Es musste eine "ent­lastende Ausnahme" her, sagt der Arzt – ­wenigstens mal frühmorgens und abends eine Stunde raus über den Balkon in den Garten. Was für eine eigentlich unmenschliche Isolation – und das in einer Situation, wo menschliche Nähe dringend nötig ist. "Wir mussten unsere anderen Patienten und uns als Klinikpersonal schützen vor Corona." Aber es tat, sagt der Arzt, "oft im Herzen weh".

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Ein Lob auf die Hightechmedizin. Beide Kinder geheilt. Doch die Familien und Mütter haben einen hohen Preis gezahlt! Nicht nur mit der Krankheit der Kinder, auch noch mit Corona fertig werden.
Alle Einrichtungen des Gesundheitswesen geschlossen und zu Hochsicherheitstrakten mutiert, Santa Fu ist nix dagegen. Von Kindern bis Senioren. In Zimmern eingesperrt. Über Wochen und Monate! Das ist eine Katastrophe, ein Versagen! Eine Epedemie solchen Ausmaßes braucht wie seine Massnahmen einen besonderen Einsatz. Wäre hier nicht der Einsatz von Bundeswehr, THW, Rotes Kreuz und. a. Hilfsorganisationen dringend notwendig gewesen? Nach Verboten und lockdowns hätte es Durchführungsverordnungen gebraucht, um in Zeitfenstern Ausgänge zu begleiten statt Einsperren und Menschen unbetreut in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen leiden und sterben zu lassen.
Unvorstellbares Leid.
Bei der Flutkatastrophe 1962 wurde durch beherztes Eingreifen Schlimmeres verhindert.
Das dürfte ein Beispiel sein, Extremsituationen mit entsprechenden außergewöhnlichen Massnahmen zu begegnen.
Es braucht Mut und Zivilcourage entgegen politischem Versagen zum Wohle der Menschheit zu handeln und wir sind dazu sogar verpflichtet.