chrismon: Wie hat die Pandemie die Arbeit im Kinderhospiz verändert?
Michael Knoll: Erheblich. Wir mussten uns von der Idee verabschieden, dass man hier in Gemeinschaft lebt und sich begegnen kann. Im Normalbetrieb dürfen die Familien zu jeder Tages- und Nachtzeit Besuch empfangen. Die Kinder mussten zunächst in ihren Zimmern bleiben. Sonst treffen wir uns im Wohnbereich, frühstücken gemeinsam, die Familien sind dabei. Plötzlich war das alles isoliert. Nur die Eltern – oder zwei festgelegte Besuchspersonen – durften zu Besuch kommen. Während des ersten Lockdowns durften wir die Eltern nicht mehr in unseren Apartments übernachten lassen, was sonst bei Aufenthalten üblich war. Das hat sich schräg angefühlt. Wie schaffen wir es, auf Distanz zu gehen und trotzdem für die Familien da zu sein? Rückblickend ist es uns gelungen. Wir hatten auch keine Corona-Infektionen im Haus.
Michael Knoll
Michael Güthlein
Wie sind die Kinder mit der Situation umgegangen?
Das ist schwierig zu sagen. Wir begleiten vorrangig Kinder, die von Geburt an körperlich und kognitiv beeinträchtigt sind und sich verbal nur eingeschränkt äußern können. Was man gespürt hat, war, dass sie ihre Eltern vermisst haben. Die Atmosphäre im Haus hatte sich verändert. Wir arbeiten viel mit Gestik und Mimik. Plötzlich waren alle dauerhaft mit Mundschutz und Kitteln unterwegs. Man kann sein Lächeln nicht mehr zeigen. Ein Kind spontan zu umarmen, war nicht mehr möglich.
Konnten Sie in dieser Zeit noch ganze Familien aufnehmen?
Viele Familien wollten ihre Kinder schützen und sind in selbst gewählter Isolation zu Hause geblieben. Im Spätsommer und Herbst 2020 haben wir gemerkt, dass viele am Limit waren. Sie hatten ihr erkranktes Kind über Monate zu Hause versorgt, mitunter sogar auf den Einsatz eines ambulanten Pflegedienstes verzichtet. Wenn sie dann noch weitere Kinder im Homeschooling betreut haben, war das eine enorme Belastung. Manche Eltern haben doch gemerkt, dass sie wieder Unterstützung brauchen. Es war gut zu spüren, wie sehr die Familien uns vertrauen. Nach dieser anstrengenden Zeit haben sich einige Familien auf der Suche nach Unterstützung an uns gewandt.
Haben Sie zu den Familien, die nicht gekommen sind, den Kontakt aufrechterhalten?
Ja. Wir begleiten die Familien nicht nur am Lebensende der Kinder, sondern über mehrere Jahre, zum Beispiel über die sogenannten Entlastungsaufenthalte. Da können die Familien bis zu vier Wochen im Jahr das erkrankte Kind bei uns unterbringen, damit sie sich auch mal erholen können. Die Kolleginnen aus dem ambulanten Dienst haben über Videokonferenzen Kontakt gehalten. Unsere Geschwisterbegleitung hat sich auf Onlineangebote umgestellt, auch in der Trauerbegleitung haben wir mit Telefonaten und Videocalls alternative Wege gefunden. Und auch unser Belegungsmanagement hat immer mal wieder bei den Familien nachgefragt, wie der aktuelle Stand ist; ob es Unterstützungsbedarf gibt. Ich glaube, wir haben es geschafft, gut für die Familien da zu sein – wenn auch anders.
"Wir leiden unter dem Pflegenotstand"
Was meinen Sie mit anders?
Es gab eine Phase, in der wir keine Geschwisterkinder mehr aufnehmen konnten. Dadurch haben manche Familien abgesagt. Für die war es katastrophal, weil diese Aufenthalte für sie wichtig sind, um zur Ruhe zu kommen. Um mal nur arbeiten zu gehen und nicht auch noch das erkrankte Kind versorgen zu müssen.
Warum mussten Sie Familien mit Geschwisterkindern ablehnen?
Wir nehmen die gesamte Familie auf und haben einen offenen Wohnbereich. Gerade jüngere Kinder tragen keine Masken, die kann man auch nicht im Zimmer einsperren. Wir mussten unsere Spielräume und das Bällebad schließen.
Viele Pflegeeinrichtungen sind personell so schlecht ausgestattet, dass schon ein Corona-Fall kaum aufgefangen werden kann. Wie ist das bei Ihnen?
Wir leiden auch unter dem Pflegenotstand. Zum Glück ist unser Team immer bereit einzuspringen, aber natürlich geht das auf deren Kosten. Unsere Sorge war: Wie gehen wir damit um, wenn sich eine Kollegin infiziert und Mitarbeiterinnen in Quarantäne müssen? Wenn uns ein Dienst in der Pflege weggebrochen wäre, hätten wir das noch auffangen können, aber beim zweiten Mal nicht mehr. Zum Glück ist es so weit nicht gekommen. Dann hätten wir Kinder nach Hause entlassen müssen.
Wie kann man sich den Wohnbereich vorstellen?
Wir haben neun Kinderzimmer und fünf Familienapartments. Der Wohnbereich liegt im Erdgeschoss mit einer offenen Küche und einem großen Tisch. Darum angesiedelt sind die neun Kinderzimmer, ein Büro, Medikamentenzimmer und ein Kreativraum für die pädagogische Arbeit. Im Obergeschoss sind die Familienapartments. Im Wohnbereich, wo es Sitzgelegenheiten für die Eltern und Lagerungsinseln für die Kinder gab, mussten wir umstellen, so dass jedes Kind einen eigenen Rolliparkplatz bekam, um den Mindestabstand zu gewährleisten. Dadurch ist alles enger geworden, und wir konnten nur sieben Kinder aufnehmen.
"Die Familien liegen den Mitarbeitern am Herzen"
Von diesen sieben Kindern waren alle nur zeitlich begrenzt da?
Dauerhaft war niemand da, aber wir hatten nicht nur geplante Aufenthalte in dieser Zeit, sondern auch Krisenintervention, Begleitung am Lebensende oder Überleitung aus der Klinik. Von den Entlastungsaufenthalten haben wir immer eine gewisse Zahl von Kindern pro Tag eingeplant und ein paar Betten freigehalten, um auf Notfallanfragen reagieren zu können. Zum Beispiel, wenn ein Elternteil erkrankt, der ambulante Pflegedienst wegbricht oder sich der Zustand eines Kindes dramatisch verschlechtert.
Wie sind Sie und Ihr Team damit umgegangen, wenn ein Kind im Hospiz gestorben ist?
Eigentlich ist es für die Mitarbeiter sehr wichtig, dass sie sich von einem Kind verabschieden können, das sie versorgt haben. Durch die Hygienemaßnahmen durften nur wenige Menschen zusammenkommen. Da hat sich das Team natürlich zurückgenommen, damit die Familien gemeinsam Abschied nehmen können.
Durften Ehrenamtliche ins Haus kommen?
Nein, darauf mussten wir zu Beginn der Pandemie verzichten. Für die Ehrenamtlichen war es schwierig zu wissen, dass Hilfe gebraucht wird, sie aber nicht helfen können. Auch unsere angestellten Mitarbeiterinnen hat es sehr beschäftigt, nicht so für die Kinder und Familien da sein zu können wie sonst. Zu sehen, dass das Kind immer wieder einen kleinen Trennungsschmerz hatte, weil die Eltern nur für kurze Zeit zu Besuch kamen und dann wieder gegangen sind. Die Familien liegen ihnen am Herzen und sie wollen eine bestmögliche Versorgung für die Kinder.
"Jede Kollegin hatte die Gelegenheit, vom Kind Abschied zu nehmen"
Ein Beispiel?
Wir hatten im Januar, Februar 2020 eine Familie zu Gast. Ein junges Paar mit zwei Kindern, der Sohn ist lebensverkürzt erkrankt. Die waren bei uns, weil es dem Sohn nicht gut ging und es fraglich war, ob er noch mal nach Hause kann. Die Eltern versuchten, einen Aufenthalt daheim zu organisieren – mit Pflege, ärztlicher Versorgung und einem Netzwerk aus Ehrenamtlichen. Dann ging Corona los, und die Familien sollten ihre Kontakte reduzieren. Und da hat sich im Pflegeteam eine Gruppe zusammengefunden, die gesagt hat: Wenn es nötig ist, gehen wir hier im Haus dauerhaft mit dieser Familie in Quarantäne, um sie nicht allein zu lassen. Am Ende ist es anders gekommen: Der Junge hat sich stabilisiert, und die Familie konnte heim. Aber so viele Mitarbeitende zu haben, die sich bereit erklärt hätten, mit in Quarantäne zu gehen und sagen "Wir lassen hier niemanden allein", ist beeindruckend.
Haben Sie etwas aus der Pandemie gelernt?
Wir haben uns beim Einsatz von digitalen Medien und Kommunikationswegen besser aufgestellt. Die Pflegekräfte haben den erkrankten Kindern ermöglicht, mit den Eltern zu zoomen oder ihre Stimmen zu hören. Wir haben die Idee der stillen Verabschiedung entwickelt. Dazu haben wir einen Raum für das verstorbene Kind eingerichtet mit Fotos, Kerzen und kleinen Symbolen. Jede Kollegin hatte die Gelegenheit, dort vom Kind Abschied zu nehmen, auch wenn es nicht dabei war. Das könnten wir auch in Zukunft so machen.
Haben Sie auch mal an Ihrer Arbeit gezweifelt?
Auch ich war zwischendurch Corona-müde und hätte gern Entscheidungen aus dem Bauch getroffen, ohne auf Hygieneregeln zu achten. Das ging leider nicht. Letztlich hat alles geklappt und mich in dem bestätigt, dass ich hier richtig bin.
Das Kinderhospiz Bärenherz in Wiesbaden existiert seit 2002. Träger ist die Bärenherz Kinderhospize gGmbH. Bislang hat das Hospiz mehr als 400 Familien begleitet.
Die Kinder und ihre Familien werden auf Wunsch bereits ab dem Zeitpunkt der Diagnose und bis über den Tod hinaus begleitet. Aufenthalte im Kinderhospiz sind mehrfach im Jahr zur Entlastung der Eltern möglich sowie in Krisensituationen und in der finalen Lebensphase. Eine Alternative zum stationären Hospizaufenthalt ist die ambulante Begleitung zu Hause durch den Kinder- und Jugendhospizdienst.
Die Kinder im Hospiz leiden zumeist unter Stoffwechselerkrankungen, genetischen Erkrankungen, neurologischen und muskulären Erkrankungen, Krebserkrankungen oder schweren Mehrfacherkrankungen, ausgelöst durch Komplikationen bei der Geburt oder Unfälle.
Finanziert wird das Hospiz durch die Kranken- und Pflegekassen und über die Bärenherz-Stiftung sowie Spenden.