Religionskritik ist nicht nur etwas für Atheisten. Auch religiöse Menschen müssen für sich klären, was ein wahrer oder falscher, guter oder schlechter Glaube ist. Nur wie? Viele herkömmliche Kriterien, um eines vom anderen zu unterscheiden, greifen zu kurz.
Johann Hinrich Claussen
Zum Beispiel die traditionelle Auffassung, wonach das Hergebrachte, das von den Vätern und Müttern Überlieferte, Ehrfurcht verdiene und das Neue misstrauisch zu beäugen sei. Nur das Alte als wahr gelten zu lassen, diskreditiert Innovationen. Zu den bedeutendsten Neuerungen der Religionsgeschichte gehören der jüdische, christliche und muslimische Monotheismus. Diese drei erklärten auf je ihre Weise, dass sie sich aus einer uralten Geschichte speisen, zugleich aber eine ganz neue Offenbarung Gottes empfangen haben: Jetzt soll das Neue als das Wahre verehrt werden. Doch welcher der drei Monotheismen kann der richtige sein? Darüber wird es kein objektives, von allen akzeptiertes Urteil geben.
Ein anderes Problem ist, dass es neben dem großen und offiziellen Glauben immer auch kleine, amtlich nicht zertifizierte religiöse Anschauungen und Handlungen gab und gibt. Früher meinten Theologen, es sei Zauberei, wenn man mit Hilfe von mysteriösen Worten und Ritualen Gott etwas Gutes abzuringen versucht: eine Heilung, ein gutes Geschäft, einen politischen Vorteil, einen Blick in die Zukunft. Das ist Aber- glaube, weil man Gott so zu etwas zwingen will, und zum anderen purer Eigennutz, oft zum Schaden anderer.
Wann ist eine Religion "gut"?
Ein sinnvoller Ansatz. Aber ganz so säuberlich lässt sich das Fromme nicht vom Unfrommen trennen. Denn in früheren Epochen war das eine mit dem anderen verbunden. Antike Christen und Juden haben wie selbstverständlich Amulette benutzt, um sich vor bösen Geistern zu schützen. Was heute wie Aberglaube aussieht, erschien damals als vernünftige Vorsichtsmaßnahme, wie es eine Impfung heute nachweislich ist.
Und was ist davon zu halten, wenn jemand eine Gürtelrose mit einem Vaterunser "bespricht"? In früheren Zeiten gab es dazu kaum Alternativen. Manche tun so etwas heute noch und glauben, es helfe ihnen. Man muss das nicht als "Zauberei" verdammen.
Das führt zu einem weiteren Kriterium, der Frage nach dem Nutzen und dem Schaden. Gut ist demnach eine Religion, die dem Leben dient, Heilung, Trost und Kraft spendet. Als schlecht gilt dementsprechend eine Religion, die dem Leben schadet, zu Unfrieden, Unterdrückung und Gewalt führt. Damit lassen sich fundamentalistische Verirrungen im modernen Christentum, Judentum, Islam oder Hinduismus als "Aberglaube" kennzeichnen, auch wenn deren Führungsfiguren den wahren Glauben exklusiv für sich beanspruchen: An ihren Früchten erkennt man, dass ihr religiöser Baum faul ist.
In anderen Fällen ist es komplizierter. Manche Menschen behaupten, ihre vernunftwidrigen Vorstellungen würden ihnen endlich den lang vermissten Durchblick verschaffen und zu allein richtigen Entscheidungen führen – während ihre Nächsten mit Sorge beobachten, wie sie sich mit ihren Annahmen in unheimliche Sonderwelten verstricken und zu gefährlichen Fehlurteilen verleiten lassen. Aber sind Verschwörungsmythen generell "Aberglaube"? Nicht selten drückt sich in ihnen doch ein nachvollziehbares Empfinden aus. Auch mögen manche Verschwörungstheorien von richtigen Beobachtungen ausgehen. "Richtig" und "falsch" lassen sich hier nicht so einfach allgemeingültig auseinanderhalten.
Manchmal halten Menschen jedoch so starr an Verschwörungsmythen fest, dass sie sich auch dann nicht von offenkundigen Widersprüchen beirren lassen, wenn sie aufgrund ihrer falschen Annahmen oder Schlussfolgerungen auf einer Intensivstation gelandet sind. Im Unterschied dazu sollte Glaube bedeuten: offenbleiben für neue Erfahrungen und Erkenntnisse, nicht selbst das letztgültige Urteil fällen wollen, sondern dies dem Leben und dem Geist Gottes überlassen. Wahrer Glaube lässt Zweifel zu. Und zweifeln kann nur, wer auch an etwas glaubt.