Das Kunstwerk
Oreet Ashery: "Self Portraits as Marcus Fisher" (2000)
Photographs by Manuel Vason
Selbstporträt
Was ist das Kostbarste, das ich habe?
Oreet Ashery spielt mit Identitäten, von denen wir alle viel mehr haben, als man sieht
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
07.06.2021

Behutsam, fast wie einen zerbrechlichen Schatz, zeigt die Person hier ihre ent­blößte Brust. Als wäre sie selbst erstaunt über das, was sie in Händen hält. Das Arrangement ist ja auch irritierend: Ein breiter Hut, Schläfenlocken, Vollbart und das dunkle Sakko – so kleiden sich orthodoxe Juden, während die Frauen langen Rock und ein Tuch oder eine Perücke als Kopfbedeckung tragen. Zur altertümlichen Mode passt die sepiahafte Schwarz-Weiß-Anmutung der Fotografie. Vielleicht ist sie auch ein Kommentar zu den ­traditionellen Geschlechterrollen orthodoxer Männer und Frauen? In jedem Fall gute Startbedingungen für eine künstlerische Intervention!

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Die 1966 in Jerusalem geborene und in ­London lebende Künstlerin Oreet Ashery spielt mit Rollenklischees, würfelt religiöse und ethnische Identitäten durcheinander und verkleidet sich gern als Mann. Ihre Lieblingsfigur ist der orthodoxe Jude Marcus Fisher, in den sie sich auch auf diesem Bild verwandelt hat. Es stammt aus der Serie von "Selbst­porträts als Marcus Fisher" aus dem Jahr 2000.

Oreet Ashery ist Feministin, hinter dem­ Spielerischen steht ein ernstes Anliegen. Aus den gesellschaftlichen Gewohnheiten, mit denen sie sich befasst, den Regeln und ­Konstrukten schält sich oft im wahrsten Sinne etwas Wunder­sames und zugleich Selbstverständliches heraus, das sich einer klaren Zuweisung entzieht.

Die entblößte weibliche Brust ist in der Kunstgeschichte immer ein Statement und auch 2021 in unserer Öffentlichkeit noch ein Politikum. Mal gilt sie als Ausweis von Selbstbewusstsein, Freiheit und Kraft, mal ist sie Symbol für Scham oder beklagten Sitten­verfall. Oreet Ashery greift diesen scheinbar ewigen Kulturkampf fast schnippisch auf, ­indem sie zwar ihre Brust zeigt, die Brust­warze aber abklebt.

Zentraler hätte sie die Brustwarze kaum platzieren können. Beim Betrachten fühlt man sich fast voyeuristisch ertappt. Ist das Einbildung, oder spricht diese Brust zu mir? Indem sie so prominent durchs Männer­kostüm bricht, wird deutlich: Der Körper ist ein mächtiges Instrument, auch wenn bestimmte Teile – wie hier – besonders verletzlich erscheinen. Die Künstlerin birgt ihre Brust wie einen Schatz, der ans Licht gehoben wird.

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Zufall, dass der Nachname der Kunstfigur auf den Beruf des Fischers verweist? Bringt Oreet Ashery Fragen in die Öffentlichkeit, wie ein Fischer eine glänzende Makrele aus dem dunklen Wasser zieht? Dazu der Vor­name: Marcus ist vom Lateinischen abgeleitet und bedeutet "der dem Kriegsgott Mars Ge­weihte". Viel männlicher kann ein Vorname kaum sein. Entsprechend überrascht scheint Marcus Fisher von dem, was da unter seinem weißen Hemd zum Vorschein kommt. Die Entdeckung der eigenen Brust als bewusstseinserweiternder Moment.

Mit etwas Pathos ließe sich wohl folgende Bild-Botschaft festhalten: Den größten Schatz trägt jede und jeder mit sich selbst herum – in Form des eigenen Körpers. Seine Kraft ist groß, ist der Mantel der Konventionen auch noch so dick.

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