Lockdown oder nicht? Schnelltest statt Sommerfest? Strenge Regeln oder große Hoffnung? In der nun seit mehr als einem Jahr andauernden pandemischen Krisenzeit drängt sich ein Satz meiner Großmutter dauernd in mein Bewusstsein: "Man stellt sich Fragen, die man sich sonst noch nie gestellt hat." Mit diesem Satz antwortete sie ihren Enkeln, wenn die wissen wollten, wie sie das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Jahre danach erlebt hatte.
Arnd Brummer
"Jeder Tag", murmelte sie, "war ein neuer." Zuerst verschwanden die Nazis. Und anstelle des abgehauenen "braunen Bürgermeisters" fungierte der Gemeindepfarrer auch im Rathaus, "weil die Leute in unserem Städtchen ihn mit ihren Bitten regelrecht bestürmt hatten".
Und dann kamen die "Amis", besetzten die leerstehende Kaserne, dankten dem Pastor und übernahmen das Rathaus. Vor den "Amis", berichtete Oma, hätten sie "saumäßig" Angst gehabt. Doch mit einem Grinsen erzählte sie dann: "Aber plötzlich gab es wieder etwas zu essen und die Läden machten wieder auf." Darauf hoffen wir ja auch. Jeder Tag ein neuer. Wir wollen keine Angst mehr davor haben, dass die just gesunkenen Zahlen der Infizierten nächste Woche wieder wie Feuerwerksraketen steil nach oben schießen. Wir möchten wieder in Restaurants, Kirchen und Kinos nebeneinander hocken und uns zur Begrüßung umarmen. Aber in jede Fuge dieser Hoffnungen drängt sich die Furcht, dass es doch wieder von vorne losgeht.
In allen Fernsehtalkshows wird die Unberechenbarkeit der Pandemie bestätigt. Und wenn die Berliner Korrespondentin dann berichtet, dass Kanzlerin und Ministerpräsidenten wieder stundenlang in Videokonferenzen beraten, verbreitet sich in unseren Gemütern erneut die vorösterliche Ungewissheit rund um die Verzeihrede Angela Merkels.
Die Corona-Zeit hat bei vielen Menschen Überzeugungen erschüttert
"Die Politiker schaffen es einfach nicht, die Sache in den Griff zu kriegen. Und wenn einer von ihnen wie der Saarländer Hans Zuversicht verstrahlt, lassen die anderen das Mutantenstreiflicht kreiseln." Dass Nachbar Egon selbst aus dem Saarland kommt, wird ihm am Gartenzaun weder von mir noch von den anderen vorgeworfen. Unterschiedliche Erkenntnis und daraus folgendes Handeln sind uns allen längst geläufig.
Das dauerhafte "Auf und Ab" der Corona-Zeit hat bei vielen Menschen die Überzeugung erschüttert, in unserer technologisch hoch entwickelten Welt sei alles rasch in den Griff zu kriegen. Und darüber hinaus mussten wir begreifen, dass auch guter Wille und beste Absicht der politisch Handelnden keine heile Welt herbeizaubern können.
Diese Lernerfahrung kann durchaus als die gute Seite der Pandemie bewertet werden. Gemeinschaft, Freundschaft, familiäre Nähe: Im Verlust ihrer Selbstverständlichkeit wird uns bewusst, wie wertvoll sie sind. Es ist gut, dass uns per Internet ermöglicht wird, wenigstens per Video einander zu begegnen. Aber gerade Lehrer:innen und Schüler:innen hoffen inständig darauf, dass der sogenannte Präsenzunterricht wieder allgemein üblich wird.