Menschen nehmen am 1. Oktober 2023 in Warschau am "Marsch der Millionen Herzen" der Opposition teil. Ein Mann hält ein großes rotes Herz mit vielen Unterschriften pro Donald Tusk in die Luft
Menschen nehmen am 1. Oktober 2023 am "Marsch der Millionen Herzen" der Opposition in Warschau, Polen, teil. Die von der größten polnischen Oppositionspartei Bürgerplattform und ihrem Vorsitzenden Donald Tusk initiierte Demonstration findet nur zwei Wochen vor den Parlamentswahlen statt
Jakub Porzycki / Getty Images
Jede Stimme zählt!
Am 15. Oktober wählt Polen eine neue Regierung. Glaubt das Nachbarland an demokratische Werte und an Europa - oder an die Propaganda der PiS-Regierung? Ein Weckruf kommt aus der Mitte der Gesellschaft.
Carsten Selak
05.10.2023

Am 15. Oktober wählen Polen und Polinnen ein neues Parlament. Diese Wahl könnte auch über die Zukunft Europas entscheiden. Gerade erst hat die rechtskonservative Regierung PiS (Prawo i Sprawiedliwość, deutsch: Recht und Gerechtigkeit) verlauten lassen, dass ihr Land ohne die EU besser gestellt sei. Ein Polexit wäre mit einer PiS-Regierung nicht unwahrscheinlich.

Es ist also nicht verwunderlich, dass seit Wochen eine Anspannung über dem Land liegt. Schon lange, bevor die ersten Wahlplakate hingen, verbreitete die PiS die Mär vom "Merkel-Lakaien" Donald Tusk, der für die Opposition KO (Koalicja Obywatelska, deutsch: Bürgerkoalition) kandidiert. Er sei ein "deutscher Spion", würde den Osten seines Heimatlandes nicht schätzen, kurz: Tusk sei das personifizierte Böse.

Donald Tusk war von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates, er steht für Fortschritt und hat ein offenes und europafreundliches Weltbild. All das lehnt die aktuelle Regierung ab.

Carsten Selak

Marta Thor

Marta Thor berichtet als freie Journalistin aus Polen und beobachtet die Parlamentswahl im Nachbarland mit großer Spannung.

Es geht bei der Wahl um die großen Fragen: Ist man für fossile Energien oder für erneuerbare? Für oder gegen den Asylkompromiss? Wie sollen die Grenzen gesichert werden, wann soll das Renteneintrittsalter sein? Wie schon 2019 scheint Polen bei diesen Fragen gespalten zu sein: hier die jungen, weltoffenen und gut ausgebildeten Städter - dort die schlecht gebildeten, konservativen älteren Menschen aus der Provinz.

Nur 55 Prozent der Frauen wollen überhaupt wählen gehen. Sie fühlen sich mit ihren Themen politisch nicht repräsentiert: 2020 wurde das Abtreibungsrecht in Polen verschärft. Vizeministerpräsident Jarosław Kaczyński versicherte kürzlich: "Auch Frauen haben ein Recht auf Leben und Gesundheit." Hört, hört!

Zudem macht es das Wahlsystem den Menschen nicht gerade einfach. Anders als in Deutschland können nur Menschen mit Behinderung oder akuten Erkrankungen per Briefwahl abstimmen. Alle anderen müssen persönlich in die Wahllokale kommen. Im Ausland lebende Polinnen und Polen müssen sich vorab für ein Wahllokal registrieren, das oft Hunderte von Kilometern entfernt ist. Kritiker befürchten, dass weitere von der Regierung geplante Veränderungen der Wahlordnung dazu führen könnten, dass viele Stimmen nicht rechtzeitig ausgezählt werden können - und verfallen.

Viele Polinnen und Polen wenden sich ganz von der Politik ab. Doch das führt nun vor allem in den sozialen Medien zu einer neuen Art der (parteilosen) Wahlwerbung: Auf einmal mischen sich Firmen, Stiftungen, Künstler und Städte ein. Sie werben nicht für bestimmte Parteien, sondern versuchen, die Menschen dazu zu bringen, dass sie überhaupt wählen gehen. Denn jede Stimme zählt! Es geht darum, die Demokratie zu bewahren.

Luftaufnahme des "Million Hearts March" in Warschau

Die Union der polnischen Metropolen, ein loser Zusammenschluss polnischer Großstädte, hat die Kampagne "Schlaf nicht, sonst wirst du überstimmt" ins Leben gerufen, ein Spruch, der auch optisch an Solidarność und die erste demokratische Wahl im Jahr 1989 erinnert. Dieser Kampagne haben sich Schauspieler, Musiker, ja sogar Städte angeschlossen und einen Wecker mit Countdown bis zur Wahl aufgestellt. Das ist ein unübersehbarer Weckruf aus der Mitte der Gesellschaft.

Illustratoren veröffentlichen Cartoons mit den wichtigsten Wahlinfos, und die Brauerei Tyskie hat sogar eine eigene Kampagne zur Wahl gemacht, die die Polen wieder einander näherbringen soll. Die Fashionmarke Ello wendet sich mit einem Instagram-Reel an junge Frauen, und die landesweit aktive Stiftung "Pinke Box", die Damenhygieneartikel im öffentlichen Raum kostenlos zur Verfügung stellt, drängt: Mädels, geht wählen!

Viele junge Polinnen und Polen wünschen sich eine demokratische Zukunft. Eine, die sie mitgestalten können, die ihre Werte vertritt. Die PiS führt zwar in den Umfragen, aber eine linke Koalition aus mehreren Parteien ist stärker. Umso wichtiger ist es, die junge Wählerschaft von ihrer Stimmkraft zu überzeugen. Am 1. Oktober riefen Donald Tusk und die KO dazu auf, in Warschau beim "Marsch der Millionen Herzen" gegen die Regierung zu protestieren. Hunderttausende reisten in die polnische Hauptstadt und setzten ein Zeichen. Hoffentlich hält der Schwung bis zum 15. Oktober.

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