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Versöhnung!" Ich habe noch im Ohr, wie mein Vater das jedes Mal ausrief nach einem Streit – und die Hand ausstreckte. Er wartete, bis ich einschlug. "Versöhnung!" Damit verbinde ich ein befreiendes Gefühl. Es wird leichter ums Herz. Was uns im Streit auseinandergebracht hat, ist nicht einfach weg. Aber es tritt in den Hintergrund. Wir gehen aufeinander zu. Auch wenn manches laute Wort noch nachhallen mag; auch wenn Wut und Kränkung noch zu spüren sind; ja sogar, wenn Wunden und Narben bleiben: Ein neuer Anfang ist möglich. "Versöhnung!": Damit fängt jeder Friede an.
Annette Kurschus
Manchmal dauert es lange, bis die Zeit dafür reif ist und einer den Mut aufbringt. Manchmal dauert es gefühlte Ewigkeiten, bis der Ruf nach Versöhnung laut wird und Gehör findet. Und auch dann bleiben Wunden empfindlich. In diesem Jahr liegt der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 und mit ihm der Beginn des Zweiten Weltkrieges 80 Jahre zurück. In weniger als 40 Tagen verloren über hunderttausend Menschen ihr Leben, ungezählte ihre Heimat, Europa und die Welt ihren Frieden. Sechs Jahre später waren rund 60 Millionen Menschen tot.
Im kriegsversehrten Europa folgte der Kalte Krieg. In Gestalt der Mauer, die Menschen in Ost- und Westeuropa voneinander trennte, blieb eine Narbe sichtbar. Montagsdemonstrationen und auch Friedensgebete brachten sie 1989 am Ende einer jahrzehntelangen, geduldigen und umsichtigen Entspannungspolitik zwischen Ost und West zu Fall. Das war vor 30 Jahren.
Die Sichtweisen gehen auseinander
1939 und 1989: Diese beiden Jahreszahlen erzählen von Krieg und Frieden, von Leid und Versöhnung in Europa. Die sogenannte Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) markierte 1965 eine Zäsur in den Beziehungen zwischen Ost und West, zwischen Deutschland und Polen. Innerhalb der evangelischen Kirchen auf deutscher und daraufhin auch auf polnischer Seite schuf sie die Grundlage dafür, "Begriff und Sache der Versöhnung auch in das politische Handeln als einen unentbehrlichen Faktor einzuführen", wie es in der Denkschrift heißt. Das Dokument hatte ein enormes Echo, es galt zu Recht als Meilenstein im Versöhnungsprozess.
Vor kurzem saßen wir in einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der EKD und des Polnischen Ökumenischen Rates der Kirchen zusammen, um den gemeinsamen Friedens- und Gedenkgottesdienst am 31. August 2019 in Warschau zu planen. Er soll an den Überfall auf Polen erinnern. Wie diesen Gottesdienst angemessen gestalten? An die Tragödie von damals erinnern und somit an die Verantwortung, die daraus folgt? "Nicht zu viel Rückblick in die Vergangenheit", sagen die polnischen Geschwister, "lasst uns lieber nach vorn schauen." Die Sichtweisen gehen auseinander. Wir spüren, wie unterschiedlich die Erinnerungskulturen in unseren Ländern sind. Und wir ahnen, wie wichtig und heilsam es ist, dann und wann die Blickrichtung zu wechseln und die Perspektive des anderen einzunehmen.
Die Welt vom Kopf auf die Füße stellen
Im Neuen Testament bedeutet Versöhnung genau dies: die Rollen zu tauschen. "Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber", steht in der Bibel (2. Korinther 5,19). Dieser dramatische Rollentausch hat die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Besser gesagt: vom Kopf auf die Füße. In Christus wurde Gott Mensch, ging in Feindesland und hat Frieden gemacht mit der Menschheit. Hier ist Versöhnung ein und für alle Mal geschehen – über alle Grenzen hinweg. Diese einmalige Versöhnung bildet das Fundament, auf dem wir gehen können – miteinander und aufeinander zu.