Girgaon Chowpatty, der Strand von Meenas Familie. Meena und die kleine Aliva
Helena Schätzle
Hiobs indische Schwester
Meena beschützt ihre Enkelin. Wer in Mumbai am Strand schläft, lebt gefährlich. Meena hat Schreckliches ausgestanden – aber sich auch behütet gefühlt. Der Fotografin Helena Schätzle hat sie ihre Geschichte erzählt.
Helena Schätzle
privat
27.03.2020

Girgaon Chowpatty, der Strand von Meenas Familie. Schwiegertochter Shabnam und die kleine Aliva

Wir Menschen sind Reisende, und jede einzelne Reise ist eine Geschichte für sich. Ich weiß kaum etwas über meine Mutter. Aber ich erinnere mich, dass ich jedes Mal vor Freude lachen musste, wenn sie in ihrer Muttersprache mit mir sprach. Ob meine Mutter uns verließ oder starb, kann ich nicht sagen. Aber alles veränderte sich, als sie weg war und mein Vater und ich zurückblieben. Mein Vater begann zu ­trinken. All seine Wut ließ er an mir aus, er schlug mich und jagte mich aus dem Haus. Ich hatte keinen Ort zum ­Essen oder Schlafen und nichts zum Anziehen. Ich ­strolchte herum und saß oft die ganze Nacht in einem Park oder auf einem Friedhof.

Ich hatte keine Ahnung, wie die Welt funktioniert. Mit zwölf besuchte ich häufig eine Nachbarin. Ich verstand das süße Gift hinter ihren Worten nicht. Eines Tages während Ramadan betäubte sie mich, nahm Geld von einem Jungen namens Anwar und ließ ihn mich vergewaltigen. Weinend vor Schmerz wachte ich auf. Anwar befahl mir, den Mund zu halten, und gab mir Geld für Essen. Schluchzend kam ich zu Hause an, meine Kleidung war voller Blut. Mein Vater war so aufgebracht, dass er mich verprügelte.

Ich wusste nicht, was ich verbrochen hatte, aber nach diesem Tag brachte mich mein Vater in ein Kinderheim. Der Vergewaltiger wurde nie belangt. Von da an änderte sich alles. Ich wusste nicht, was gut und schlecht, was richtig oder falsch war. Alles, was ich wusste, war, dass wir Kinder zusammenhalten mussten. Gemeinsam lernen, spielen und unsere eigene Welt aus Glück und Gemeinschaft aufbauen.

Mumbai hat 12,5 Millionen Einwohner, die Hälfte lebt in Slums. Meenas Zuhause ist der Strand

Als ich mit 18 aus dem Kinderheim kam, spürte mich der Mann, der mich als Kind vergewaltigt hatte, auf. Er folgte mir ständig und fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wolle. Als ich mich weigerte, drohte er, mich mit Säure zu übergießen. Die Leute um mich herum drängten mich ebenfalls und sagten: "Du solltest mit dem Mann zusammenleben, der dir deine Unschuld genommen hat." Dumm, wie ich war, gab ich nach. Ziemlich schnell bekamen wir ein Kind, einen Sohn. Anwar ließ uns auf der Straße zurück. Ich hatte keine Unterstützung, kein Geld. Also gab ich unseren Sohn an ein Paar, das keine ­Kinder hatte. Viel später, als erwachsener Mann, besuchte er mich. Kürzlich erfuhr ich, dass er gestorben ist.
Anwar und ich hatten noch zwei weitere Kinder. Unser zweiter Sohn fiel beim Spielen in Ohnmacht. Wir brachten ihn ins Krankenhaus, wo der Arzt ihm eine Spritze gab, ihn aber kurz darauf für tot erklärte. Unser drittes Kind, eine Tochter, verheiratete ­Anwar mit dem Sohn eines Freundes. Heute wohnt sie mit ihm und ihren Kindern in Tardeo und verweigert jeden ­Kontakt mit mir.

Mit Anwar zu leben, war der größte Fehler meines ­Lebens. Am Ende ließ er mich allein zurück und zog in sein Dorf, ­wo er sich zwei neue Frauen nahm und ein neues Zuhause aufbaute. Ich fühlte mich so einsam, dass ich mich dem Alkohol zuwandte. Erneut streifte ich durch die Straßen. Ich lernte, dass wir alle nur wie hungrige Tiere sind. Und ich begann zu glauben, dass Männer Frauen nur zur Befriedigung ihrer Wünsche benutzen. Ich beschloss, ­niemals wieder einen Mann über mich bestimmen zu lassen.

Shabnam stylte Helena, wann immer sie an den Strand kam. Sie liest, schreibt und näht auch, wie Meena

Liebe Helena,
eines Tages kam eine Fremde zu mir. Das warst du. Du fragtest, ob du mich foto­grafieren dürftest, und ich sagte Ja. Zwei Jahre später kamst du wieder, ich erkannte dich zuerst nicht. Aber dann erinnerte ich mich. Du hattest mir einen Brief mit Bildern geschickt. Du kommst wie ein Engel und fliegst nach ein paar Tagen wieder weiter. Du erinnerst mich an meine Tochter, die ich weggegeben habe. Dein Kommen und Gehen ist wie ein Traum. Eine Reisende aus der Fremde wird zu einer Bekannten, die Bekanntschaft verwandelt sich in eine Freundschaft. Es kommt mir vor, als würden wir uns schon sehr lange kennen. Du fühlst dich an wie jemand sehr Nahes, den ich verloren und wieder­gefunden habe.
Deine Meena

Meena mit ihrem Mann Rustom - und Enkel Habib. Die Ehe hält, mit allen Höhen und Tiefen

Dann traf ich Rustom. Er ist zehn Jahre jünger als ich und Muslim. Ich sah damals sehr gut aus und trug ­Saris. Ich sagte mir: Vielleicht hatte Gott Mitleid mit mir und sandte mir einen Engel zu meiner Rettung. Ich fragte Rustom: "Wirst du mich genauso erniedrigen wie andere auch?" Er schwor bei seinem Leben, das nicht zu tun, und ich glaubte ihm.

Seine Mutter jedoch beschimpfte mich. Ich sei schwarz, hässlich und alt. Sie beschwerte sich über meine Kaste und meine Religion und beschuldigte mich, ihren Sohn in die Falle zu locken. Nach und nach begann auch Rustom, schlecht über mich zu denken. Er stritt mit mir, und mein Herz brach immer wieder neu.

In dieser Situation brachte ich ein kleines Mädchen auf die Welt. Rustom schlug mich und sagte, er wolle weder mich noch unsere Tochter. Ich war so erschüttert, dass ich unsere Tochter in dasselbe Kinderheim gab, in das mein Vater mich gebracht hatte. Doch schon kurze Zeit später überkamen mich Schuldgefühle. Ich wollte unsere Tochter zurückholen, doch man teilte mir mit, dass sie an eine Schweizer Familie gegeben worden sei. Ich trauerte lange, und bis heute weiß ich nicht: Wurde sie wirklich adoptiert und lebt nun ein glückliches Leben, oder wurde sie an Unbekannte verkauft? Ich vermisse sie noch immer.

Nur Plastikplanen schützen vorm Monsun (oben). Rostom spielt mit Habib, Scheinwerfer leuchten alles aus

Rustom kehrte zu mir zurück, und ich gebar Zwillinge, Abdulla und Salma. Wir waren sehr arm und hatten nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Ich schuftete ununter­brochen, um unsere Kinder auf eigene Faust durchzu­bringen. Ich fand mich damit ab, nur die Kleidung zu ­haben, die ich trug, und nur eine Mahlzeit am Tag. Während der Ausschreitungen in Mumbai 1992 waren meine Zwillinge sieben Jahre alt. In verschiedenen Stadtteilen gingen Bomben hoch. Wir lebten auf der Straße, und ich hatte große Angst. So beschlossen wir, die Kinder in Rustoms Dorf zu bringen.

Wir baten seine Verwandten, unsere Streitigkeiten zumindest so lange zu vergessen, wie die Ausschreitungen anhielten. Doch sie kümmerten sich nicht um die Kinder. Schließlich ergriff Abdulla die Flucht und kam zurück nach Mumbai. Er sah krank aus, und als ich ihm Essen gab, schlang er es hinunter wie ein ausgehungerter Bettler. Eines Tages begann er sich plötzlich im Kreis zu drehen und krachte auf den Boden. Ich war schockiert. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Elf Jahre lang nahm er dann Medikamente gegen Epilepsie. Ich zog mit ihm durch die ganze Stadt – zu Ärzten, Tempeln, Moscheen und Heiligenschreinen, aber alles vergeblich.

Ich verkaufte Spielzeug, das ich aus Muscheln ­herstellte, und verdiente genug Geld, um uns eine kleine Hütte am Hanging Gardens zu bauen. Aber dann wurde meine ­Tochter mit achtzehn Jahren krank. Ich hatte noch nie von so einer Krankheit gehört. Ein Hirntumor.

Die Ärzte verlangten 100.000 Rupien für die Opera­tion von mir. Ich verkaufte unsere Hütte für 45.000 Rupien, außer­dem verkaufte ich das bisschen Schmuck, das ich für die Hochzeit meiner Tochter gespart hatte. Alles, was ich zusammenkratzen konnte, um die 75.000 Rupien (circa 1000 Euro), gab ich den Ärzten

Meena und ihr Sohn Abdulla. Im Hintergrund Chai- oder Teeverkäufer

Nach der Operation hatte meine Tochter ihre Stimme verloren, und bald darauf konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Das war jetzt aus diesem zerbrechlichen, schönen, unschuldigen Kind mit all seinen Träumen von der Liebe und dem Leben geworden! Nach der Operation gab der Arzt ihr noch zwei Monate zu leben.

Als sie nach sechs Monaten starb, brach mir das Herz. Ich schluchzte vor Schmerz und Qual. Ich betrachtete ihr Gesicht und dachte: Mein ganzes Leben war ich eine Kämpferin, aber dagegen kam ich nicht an. Ich verstand, dass alle Anstrengung vergebens ist. Was immer wir tun, wir werden eines Tages leiden müssen. Nachdem meine Tochter gestorben war, zogen wir zurück an den Strand von Chowpatty, genau dorthin, wo ich geboren wurde. In dieser kleinen Welt kannte ich jede Ecke, jeden Winkel. Das hier ist mein Zuhause, dieser Ort mit seinem unendlichen Horizont – der Strand, der Sand, das Meer und mein Baum, unter dem wir Zuflucht fanden und unsere Bleibe aufschlugen, eine Hütte aus Plastikplanen. Der Baum war wie eine Mutter. Die Vögel lehrten mich Geduld, und im warmen Sand fühlte ich mich gehalten wie ein kleines Kind an der Brust seiner Mutter. Jeden Abend malte die Sonne ein anderes schönes Bild über dem Meer. Trotz aller Probleme ist hier mein Ort des Glücks.

Wohnung am Rande von Mumbai in Nala Sopara. Aliva (auf dem Stuhl) mit Nachbarn

Ich glaube, es waren meine Gebete an die Heiligen, die Shabnam in das Leben meines Sohnes treten ließ. Ihre Eltern hatten sie gegen Geld mit einem alten Mann ver­heiratet, aber sie war ihm davongelaufen. Während ­Ramadan besuchte sie Chowpatty Beach häufig und verbrachte Zeit mit uns. Abdulla und Shabnam begannen, Gefallen aneinander zu finden.

Shabnams Familie war darüber sehr erbost, weil sie ­erneut an einen Mann verkauft werden sollte. Sie ­schlugen und verfluchten sie und sagten, sie werde nie Kinder ­bekommen können. Ich antwortete ganz ruhig: "Das ist etwas, das Gott entscheiden soll." Heute haben sie drei wunderbare Kinder. Nachdem unsere Enkel geboren wurden, machte ich mir zunehmend Sorgen über die Zustände am Chowpatty Strand. Ich sah, wie viele Kinder Opfer von Vergewaltigungen wurden. Als das auch mit unseren Nachbarn passierte, begann ich, regel­mäßig bis morgens um drei wach zu bleiben, um sicher­zugehen, dass sich niemand an meinen Enkeln vergriff.

Eines Tages schafften wir es, mit Hilfe von Freunden nach Nala Sopara, einen Vorort von Mumbai, zu ziehen. Wir freuten uns, während des Monsuns endlich wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Kinder schlossen Freundschaften und begannen, zur Schule zu gehen.

Ich sagte mir, dass es so am besten für uns alle sei, und doch war es schwierig. Es war weit weg von allem Vertrauten – meinen Freunden und Bekannten, meiner Einkommensquelle, meinem Baum, den Wellen, den Vögeln und dem Strand von Chowpatty. Drei Jahre schlugen wir uns mit kleinen Jobs durch, um Miete, Essen und Schulgeld zu zahlen. Dann beschloss ich, zum Strand zurück­zuziehen. Meine Familie folgte mir.

Meena mit einer Nachbarin, die Tochter ist gehörlos (oben). Habib küsst Shabnam

Es wurde schwerer als je zuvor. Die Polizei schikanierte uns regelmäßig. Wir wussten nie, wann sie kommen und all unsere Sachen mitnehmen würden. Manchmal ­nahmen sie während der Regenzeit unsere Plastikplanen und gruben große Löcher in den Sand, so dass wir dort nicht erneut lagern konnten.

Heute besitze ich nichts. Alles, was ich habe, ist mein Glaube. Wenn Gott keinen freundlichen Blick für mich hat, wie kann ich das dann von der Welt erwarten? Ich frage mich, wie lange ich noch durch diese Welt stolpern werde, auf einer endlosen Reise zu einem unbekannten Ziel. Und doch war meine Reise schön.

Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche. Wer das Zuhause betritt, zieht die Schuhe aus
Produktinfo

Das Buch "To Meena" erzählt ebenfalls Meenas ­Lebensgeschichte und enthält noch viel mehr Fotografien von ihr und ihrer Familie. Der Sonderedition beigelegt ist ein von Meena bemalter ­Umschlag mit Zeichnungen, Fotografien, Geschichten und Briefen. Jedes ­Exemplar ist ein ­Unikat. Der Erlös ist für die Ausbildung von Meenas Enkelkindern bestimmt.

Das Buch kostet 32 Euro, mit Beilagen von Meena 48 Euro. Hier bestellen.