Eine Frau betreut fünf, sechs Kinder, bis sie erwachsen sind. Das ist die Idee der SOS-Kinderdörfer. Ist sie noch zeitgemäß?
Katharina Ebel: Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man Kinder versorgen, die ihre Eltern verloren hatten. Heute haben wir es vermehrt mit Sozialwaisen zu tun. Familien zerbrechen, weil Eltern psychisch, sozial oder finanziell nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Manche gehen ins Ausland, um zu arbeiten, und müssen ihre Kinder bei Verwandten zurücklassen. Im südlichen Afrika haben wir das Problem, dass viele Kinder ihre Eltern an das HI-Virus verlieren und bei den Großeltern aufwachsen. Häufig sind die aber nicht mehr in der Lage, sich um die Kinder zu kümmern. Wir unterstützen deshalb heute vielmehr die gesamte Familie. Darüber hinaus sind viele Länder in Afrika und Südamerika Vorreiter dahingehend, dass Kinder nicht mehr über lange Zeit in Kinderheimen untergebracht werden dürfen. Auch wenn die Kinderdörfer nichts mit einem Heim gemein haben, betrifft uns das.
Katharina Ebel
Claudia Keller
Was bedeutet das für SOS?
In Ruanda zum Beispiel hat die Regierung die Verwahrung von Kindern in Heimen abgeschafft und wollte von heute auf morgen auch das Kinderdorf schließen, weil sie unser Konzept nicht verstanden hatte. Wir hatten nicht gut genug kommuniziert. Für die Kinder wäre das eine Katastrophe gewesen. Wir haben daraus gelernt. Wir arbeiten deshalb eng mit den Regierungen zusammen und versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden und die Sozialsysteme aufzubauen, damit die Kinder aufgefangen werden. Solche Entwicklungen verändern natürlich unsere Art zu arbeiten und unsere Strukturen fundamental. Wir betreuen heute die Kinder, sofern sie nicht Waisen sind, vorübergehend und versuchen gleichzeitig, die Mutter, den Vater psychisch zu stabilisieren. Wir helfen bei der Erziehung, bei der Jobsuche, bringen ihnen Lesen und Schreiben bei – alles, damit die Kinder möglichst bald in ein stabiles Zuhause zurückkehren können. Früher hätte man die Kinder vielleicht im Kinderdorf aufwachsen lassen. Heute weiß man, dass es besser ist, wenn sie wieder zu den Eltern zurückkehren, sobald diese stabil sind. Das ist aufwendig und braucht viel Einfühlungsvermögen. Aber es lohnt sich. Wir erreichen langfristig mehr Menschen durch unsere Arbeit und können auch positiven Einfluss auf ganze Gemeinden ausüben.
Wie ist das für die Kinderdorfmütter?
Schwierig. Sie müssen häufig mit einer Dreiecksbeziehung klarkommen. Sich mit den Eltern austauschen und einen guten Weg finden, um den Kindern die Situation zu erklären. Oft ist es auch für die Kinder schwierig, zu sich zu finden. Auch eine enge, vertrauensvolle emotionale Bindung zu einem Kind aufzubauen ist nicht einfach, wenn Kinder nach kurzer Zeit wieder gehen und andere kommen. Und unter Umständen entlässt man sie in ein Umfeld, das nicht vergleichbar ist mit den hohen Standards eines Kinderdorfs. Aber letztlich haben Kinder nun mal in den meisten Fällen die engste Beziehung zu ihrer leiblichen Mutter.
"Wir sind auf die Regierungen angewiesen"
Mit wem arbeitet SOS in Kriegsgebieten zusammen? Zum Beispiel in Syrien?
Wenn wir in Konfliktregionen arbeiten wollen, sind wir, obwohl wir natürlich neutral sind, auf die Regierungen angewiesen. Alle NGOs benötigen Genehmigungen und müssen sich registrieren. Alle unsere Mitarbeiter in den Kinderdörfern stammen aus den jeweiligen Regionen. Vor Ort arbeiten wir also als nationale Organisation. Das hat den Vorteil, dass sich unsere Teams gut auskennen, schnell handeln können und vor allem langfristig bleiben. Sie sind aber auch selbst betroffen, wenn ein Krieg beginnt oder eine Naturkatastrophe passiert. Vor allem in Krisengebieten können wir uns Fehler nicht leisten. International operierende Organisationen können teils mutiger oder kritischer agieren. Für uns sind Neutralität und Diplomatie oberstes Gebot. Die Schließung eines Kinderdorfes zum Beispiel aufgrund unbedachter Äußerungen wäre eine absolute Katastrophe für die Kinder und eine Gefahr für unsere Mitarbeiter.
Gab es in Syrien vor dem Krieg Kinderdörfer?
Ja, eins in Damaskus und eins in Aleppo. Das in Aleppo mussten wir schon 2012 evakuieren, weil ein Panzer hineingefahren ist und Position bezogen hat. Es lag strategisch gut. Wir haben dann im Verlauf des Krieges eine neue Übergangsunterkunft in Aleppo eingerichtet für Kinder, die auf der Flucht von ihren Eltern getrennt wurden. Als der Krieg immer näher kam, mussten wir entscheiden, ob wir auch diese Unterkunft evakuieren sollen. Ich saß im Libanon und hatte nur eine Nacht für diese Entscheidung: Schicke ich die Kinder in Bussen viele Stunden über eine Straße, von der ich nicht weiß, von welchen militärischen Gruppen sie gerade kontrolliert wird? Oder lassen wir die Kinder in Aleppo und riskieren, dass sie von Bomben getroffen werden? Es war sehr schwierig, an unabhängige Informationen zu kommen.
Wie haben Sie entschieden?
Wir haben die Kinder evakuiert nach Damaskus. Die Mitarbeiter in Aleppo haben aber vor der Evakuierung nicht alle Eltern erreicht. Neulich habe ich in Aleppo eine Mutter getroffen, die aufgrund meiner Entscheidung zweieinhalb Jahre von ihren kleinen Kindern getrennt war. Ihr Mann ist verschollen, sie musste mehrfach fliehen, hatte keine Unterkunft und versuchte, irgendwie zu überleben. Sie wusste zwar, dass ihre Kinder bei uns in Sicherheit in Damaskus waren, sie konnte auch zwei Mal im Monat mit ihnen telefonieren. Aber trotzdem war es eine sehr schwierige Zeit für alle. Die Frau ist jetzt gut aufgestellt, hat wieder eine Wohnung, sie wird psychologisch betreut, wir helfen ihr, ein kleines Geschäft aufzubauen, um Kleidung zu verkaufen. Sie fand meine Entscheidung richtig und sagte mir, dass sie viele Kinder in Aleppo hat sterben sehen.
"Für viele Kinder ist es ein Highlight, wieder zur Schule gehen zu dürfen"
Mussten Sie manchmal hilflos zuschauen?
Madaya nordwestlich von Damaskus war so ein Beispiel. Oppositionsgruppen hatten die Stadt besetzt, Regierungstruppen haben hineingeschossen. Die Menschen waren monatelang abgeschottet und haben gehungert. Wir haben versucht, Medikamente für die Kinder hineinzubringen, das ließen die Regierungstruppen aber nicht zu, weil sie fürchteten, dass die feindlichen Kämpfer an die Medikamente kommen. Da kannst du nichts machen, außer verhandeln und zu versuchen, dass die Kinder rauskommen, medizinisch versorgt werden, und sie wieder reinbringen. Das sind sehr schwierige Situationen. Ich habe gelernt, dass ein Kinderleben im Krieg keine Rolle spielt.
Was brauchen die Kinder in Syrien heute?
Das Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Die Erfahrung, dass nicht Krieg die Normalität ist, sondern Frieden. Viele haben Zerstörung, Tod, Flucht, Verlust erlebt und wissen oft nicht, wo ihre Eltern sind. Einige haben jahrelang auf der Straße gelebt und kommen mit Regeln nicht gut zurecht. Sie haben schwere Traumata und kennen nichts anderes als Krieg. Sind aggressiv, leiden unter Alpträumen und Panikattacken, werden depressiv, und manche versuchen sogar, sich das Leben zu nehmen. Für viele ist es ein Highlight, wenn sie wieder zur Schule gehen dürfen und ein bisschen Struktur ins Leben zurückkehrt. Aber die ständige Unsicherheit prägt sie sehr. Teilweise haben sie eine Härte, die sie nicht wie Kinder, sondern wie Erwachsene wirken lässt.
Wie ist die Lage in Aleppo?
In vielen Stadtteilen ist es ruhig, aber unser Kinderdorf ist immer noch besetzt. 70 Prozent der Altstadt von Aleppo sind komplett zerstört. Trotzdem kehren viele Menschen zurück und improvisieren ohne Strom, ohne Licht. Kinder lassen mitten in den Trümmern Drachen steigen, man sieht, wie Frauen die Sonne genießen und Zuckerwatte essen und tanzen. Das Leben ist stärker als die Zerstörung. Aber viele Männer sind verschollen. Wir begleiten die alleinerziehenden Mütter, haben eine Schule aufgebaut und schauen, dass die Familien zumindest eine warme Mahlzeit am Tag bekommen. Manchen zahlen wir auch die Miete für den Übergang und helfen, dass sie wie die Mutter in Aleppo ein kleines Unternehmen gründen können. Sich selbstständig zu machen, ist für viele die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.
"Heute gibt es auch Kinderdorfväter"
Wäre es besser, traumatisierte Kinder würden in den Westen kommen?
Nein, es ist wichtig, ihnen in ihrer eigenen Sprache und aus ihrer eigenen Kultur heraus Bewältigungsstrategien beizubringen. Sie haben so viel verloren und sind zurückgeworfen auf das Wenige, was ihnen vertraut ist.
Ist es einfach, Mitarbeiter zu finden?
Jein. Wir zahlen lokale Gehälter. Die Vereinten Nationen oder die deutsche GIZ sind finanziell attraktiver. Oft fehlen Experten, zum Beispiel in der Arbeit mit Traumatisierten. Aber viele Menschen arbeiten ehrenamtlich bei uns mit, das war auch während der Hochzeit des Krieges in Syrien so. Sie spielen mit den Kindern und lernen mit ihnen, Ärzte haben sie unentgeltlich versorgt. Viele unserer syrischen Mitarbeiter haben gesagt, sie wollen sich dem Krieg nicht einfach ergeben und etwas Sinnvolles tun.
Ist es schwierig, in Deutschland Kinderdorfmütter zu finden? Dahinter steht ja ein traditionelles Frauenbild, das viele nicht mehr attraktiv finden.
Einfach ist es nicht. Es ist ja ein Job, der einen rund um die Uhr bindet, sieben Tage die Woche. Das muss man als Berufung sehen. Viele sind Sozialarbeiterinnen, manche Mütter haben vorher andere Berufe ausgeübt, waren zum Beispiel Anwältinnen und wollten irgendwann was ganz anderes machen. Alle durchlaufen eine dreijährige Ausbildung. Die Mütter haben heute feste Urlaubszeiten und sind dann auch mal sechs Wochen weg. Manche haben auch ihre eigenen Familien, mit denen sie im Kinderdorf leben.
Sind darunter auch Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch?
Teilweise bestimmt. Gerade in konservativen, traditionellen Gesellschaften kann das Kinderdorf alleinstehenden Frauen ein eigenständiges Leben ermöglichen. Sie vielleicht sogar vor ungewollter Ehe beschützen. Vielleicht ähnlich wie ein Kloster Schutz bieten kann. Mittlerweile gibt es auch einige Kinderdorfväter. In Florida zum Beispiel und in Brasilien. Die sind für die heranwachsenden Jungs sehr wichtige Vorbilder.
"Jeder Fall wird angezeigt"
Sind bei SOS Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder bekannt geworden?
Vor einigen Jahren haben wir systematisch die Vergangenheit eines österreichischen Kinderdorfs aus der Anfangszeit aufgearbeitet, nachdem sich ehemalige Kinder gemeldet und erzählt haben, dass sie dort missbraucht worden waren. Nicht von Mitarbeitern, sondern von jemandem, der oft zu Besuch war. Der Mann war sehr angesehen und wurde leider auch noch gedeckt.
Was tun Sie, um Übergriffe zu verhindern?
Vor vier Jahren haben wir in Zusammenarbeit mit einer auf Missbrauchsprävention spezialisierten Kinderschutzorganisation angefangen, unsere Mitarbeiter systematisch fortzubilden. Wir haben ein Untersuchungssystem aufgebaut, das in allen 135 Ländern auf der lokalen Ebene beginnt und bis ins obere Management reicht. Jeder Fall wird angezeigt. In Ländern, in denen die Ermittlungsbehörden nicht stark sind, haben wir international zusammengesetzte Teams, die aufklären und Maßnahmen einleiten, zum Beispiel Mitarbeiter suspendieren oder entlassen, wenn eine Beteiligung nachgewiesen werden kann. Auch ich bin ausgebildet als Ermittlerin. Wir haben mit Polizisten, die für Kinderschutz zuständig sind, trainiert, wie man Befragungen durchführt, wie man Zeugen und Quellen schützt, wie man sich absichert. Und wie man dann Maßnahmen durchsetzt. Das braucht viel Training und Ressourcen, aber es lohnt sich. Wir sehen Erfolge.
Wie geht das in einem Kriegsgebiet, wo es keine festen staatlichen Strukturen gibt?
Wir schicken unabhängige Teams in das betroffene Land. Sind Personen aus dem Management in den Fall involviert, führen wir die Befragungen außerhalb des Landes durch, meist in einem Nachbarland. Keiner der Beteiligten weiß vorher, warum er vorgeladen wird, auch nicht der dortige Mitarbeiter, der für Kinderschutz zuständig ist. Das Wichtigste ist aber, die Kinder aus der Gefahrenzone rauszubringen. Die Bestrafung ist natürlich schwierig, wenn es keine verlässlichen staatlichen Strukturen gibt oder Korruption verbreitet ist. Dann ist der Täter womöglich der Sohn des Polizeipräsidenten, oder der Betroffene gehört zur falschen Ethnie und keiner will handeln, ohne sich selbst oder die Organisation zu gefährden.
"Klimawandel ist ein zentrales Thema für uns"
In Europa engagieren sich viele Jugendliche gegen den Klimawandel. Spielt das Thema in den SOS-Dörfern eine Rolle?
Klimawandel und Umweltschutz sind eigentlich zentrale Themen für uns. Denn viele Familien verarmen und zerbrechen, weil sie aufgrund von Dürren oder permanenten Überschwemmungen ihre Regionen verlassen müssen. Sie können nicht mehr genug anbauen oder haben nicht mehr ausreichend Weideflächen für ihr Vieh. Wenn wir da mit grüner Technologie ansetzen und mit Klimaexperten zusammenarbeiten würden, könnte das Familien nachhaltig helfen. Zusätzlich haben wir ein weltweites Netz von Kindern und Jugendlichen. Ihnen ein Bewusstsein für ihre Umwelt mitzugeben, hat ein riesiges Potenzial! Die Kinder sind die Klimaschützer von morgen. Im Kleinen tun wir schon einiges. Aber da geht noch viel mehr!
Das erste SOS-Kinderdorf wurde 1951 im österreichischen Dorf Imst eröffnet. Der Gründer Hermann Gmeiner wollte verlassenen und elternlosen Kindern eine neue Familie geben, mit einer Mutter und Geschwistern, in einem Haus in einer Dorfgemeinschaft.
Heute gibt es 572 Kinderdörfer in 135 Ländern und 2100 weitere Projekte wie Kindergärten, Schulen, Ausbildungs-, Sozial- und medizinische Zentren. Außerdem leistet die Hilfsorganisation Nothilfe in Kriegs- und Katastrophenregionen. Seit der Gründung wuchsen 255 000 Jungen und Mädchen in SOS-Dörfern auf und rund 3,7 Millionen Kinder erhielten Unterstützung in ihrer Herkunftsfamilie. Von Anfang an setzte sich SOS zudem für die Rechte schutzbedürftiger Mädchen und Jungen ein.